Das Erbe des Bösen
Eingangshalle der Wohnung seines Vaters ging.
Erik versuchte, das Bild des Mannes loszuwerden, indem er das Buch hervorholte, das Kohonen ihm geliehen hatte: ›Operation Paperclip: The United States Government and Nazi Scientists‹. Erik betrachtete den Umschlag, den ein stilisiertes Hakenkreuz zierte. Widerwillig schlug er das Personenregister auf und glitt mit dem Finger über die Namen, die mit N anfingen, aber es gab keinen Eintrag unter Narva.
Das war keine Überraschung, aber doch eine Erleichterung. Dem Rückseitentext zufolge war die Operation Paperclip ein von der U S-Armee durchgeführtes Unternehmen, bei dem Wissenschaftler, die für Nazideutschland Militärtechnologie entwickelt hatten, nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten eingestellt wurden. Im Vorwort des Buches wurde betont, dass das Werk nur einen Bruchteil der mehreren hundert Forscher vorstellte, die im Zuge von Paperclip in die USA gegangen waren.
Eriks Gedanken kehrten immer wieder zu dem Eindringling in der Wohnung seines Vaters zurück. Wäre sein Vater nicht schon über zwanzig Jahre pensioniert, hätte Erik den Besuch des Mannes irgendwie verstehen können. Denn solange er sich erinnern konnte, war die Arbeit seines Vaters von Geheimniskrämerei umgeben. Lockheed – einer der Zulieferer des Apollo-Programms – war ein mysteriöses Unternehmen gewesen, das in |82| enger Zusammenarbeit mit Pentagon und CIA geheimste Flugzeug- und Militärtechnik entwickelt hatte. So waren unter anderem die Spionageflugzeuge U2 und SR71 Blackbird an den Zeichentischen und in den Produktionslinien von Lockheed entstanden. Überdies hatte das Unternehmen in seinen letzten Jahren der Selbstständigkeit seinen Ruf durch Bestechungsskandale ruiniert.
Aber Erik war bislang nie auf die Idee gekommen, dass sein Vater in zwielichtige oder gar illegale Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte.
Entsetzt betrachtete Rolf die Karte, die Hoffmann vor ihm ausgebreitet hatte. Darauf war ein roter Kreis gezeichnet worden, in dessen Mitte die Ortschaft Brotterode im Thüringer Wald, unweit von Gotha, zu erkennen war.
Auf dem Stuhl neben ihnen lag die Kopie einer Seite aus Hans’ Tagebuch. Wie hatte Hans nur so ein Idiot gewesen sein können, Einzelheiten aus jener Zeit aufzuschreiben? Und doch machte es Rolf jetzt wütend, dass Hans seine Erinnerungen nicht
noch
genauer notiert hatte.
Er versuchte sich vorzustellen, wie Hans’ Tagebuch in Hoffmanns Hände geraten sein konnte. Hans und Katharina waren nach der chaotischen Endphase des Krieges in der sowjetischen Besatzungszone in Berlin geblieben, und Rolf hatte jahrelang nichts von ihnen gehört. Fünf Jahre später waren sie in den Westen gegangen, nach Hamburg, wo Hans Arbeit in einem Forschungslabor von Siemens fand. Als Rolf im Sommer 1950 nach Finnland reisen wollte, lud er Hans und Katharina zu einem Besuch in Helsinki ein. Ingrid hielt sich damals bei ihrer Familie in Stockholm auf.
Die Ehe von Hans und Katharina ging in die Brüche, und Katharina kam schließlich nicht mit nach Finnland, aber Hans kam – und lernte dort eine gewisse Kirsti kennen. Hans und Kirsti heirateten später, ließen sich in Hamburg nieder und bekamen einen Sohn, Markku, den Kirsti zweisprachig erzog. Als er erwachsen |83| war, ging Markku dann nach Finnland. Nach Kirstis Tod in den Neunzigerjahren kehrte Hans in seine Heimatstadt Berlin zurück. Zuletzt hatte Rolf im Sommer etwas von ihm gehört: Markku hatte ihn vom Tod seines Vaters informiert.
»Ich möchte Sie nicht an Ihre Enkelkinder erinnern«, sagte Hoffmann und riss Rolf aus der Vergangenheit.
»Dann tun Sie es auch nicht.« Rolf merkte, wie seine Stimme vor Zorn und vor Angst zitterte. Er hustete und versuchte sich zu konzentrieren. »Ich erinnere mich gut an das Bergwerk und an den Friedhof beim Herrenhaus, den Hans erwähnt. Aber nicht daran, wo genau sie sich befinden.«
»Sie hoffen sicherlich ebenso wie ich, dass Ihnen die genaue Lage bald wieder einfällt.«
»Können Sie sich denn so gar nicht vorstellen, dass einem Menschen nicht auf Knopfdruck alles einfällt, was sechzig Jahre zuvor passiert ist?«
Rolf hob die Stimme, und er merkte, wie seine Augen feucht wurden. Er war in seinem Leben in furchtbare Situationen geraten, aber er hatte sich stets aus der Affäre gezogen, ohne seine Angehörigen in Gefahr zu bringen. Doch damals war er jünger und stärker gewesen. Jetzt kam er sich zerbrechlich vor, und er hatte tödliche Angst, Eriks Kinder
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