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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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umher, mühsam unterdrückte Erinnerungen krochen aus den hinteren Winkeln seines Bewusstseins wieder empor und produzierten immer weitere Bilder aus jener Zeit der Leidenschaften, die er so sehr zu vergessen versucht hatte. Damals hatte er nichts begriffen, nichts von dem, was er tat.
    Wie viele hatten später so gedacht. Aber das war eine billige Ausrede. Schließlich gab es doch auch etliche, die durchaus irgendwann Zweifel hatten – sogar Hans war einer von ihnen gewesen.
    Rolf erinnerte sich, wie er an einem wolkenverhangenen Tag im Juni 1942 voller Anspannung im Gang vor Dr.   Kurt Mayers Zimmer stand. Mayer waren Rolfs »experimentalphysikalische Fähigkeiten« aufgefallen, hatte es geheißen. Der Mann war ein Konkurrent von Heisenberg, dem selbst ernannten Herrscher über die Theorie. Der energische Mayer hingegen, der viele Jahre in der Sprengstoffversuchsanstalt in Kummersdorf-Gut südlich von Berlin gearbeitet hatte, war ein Vertreter der angewandten Physik.
    Schließlich hatte Rolf das Zimmer als neuer Mitarbeiter von Mayers Gruppe verlassen – und er steckte voller Begeisterung. Dies war die entscheidende Wende in seiner Karriere gewesen. Er ging nach Gottow bei Kummersdorf-Gut, um dort einen Versuchsreaktor zu bauen. Von Berlin aus waren es sechzig Kilometer bis dorthin, es lohnte sich nicht, die Strecke täglich zurückzulegen, darum übernachtete er oft in der Kaserne auf dem Gelände. In gewisser Weise hatte er das Gefühl, fünf Jahre zu |77| spät dort gelandet zu sein, denn die Raketenversuchsstation, in der auch Wernher von Braun beschäftigt war, hatte man bereits 1937 von Kummersdorf-Gut nach Peenemünde verlegt. Und selbst die Aufmerksamkeit eines von Braun konnte sich nun nicht mehr ausschließlich auf die Eroberung des Weltalls richten. Inzwischen ging es längst darum, feindliches Land auf der Erde zu erobern.
    Seine spärliche Freizeit in Berlin verbrachte Rolf in einem engen Kreis, zu dem außer Hans noch Katharina, Ingrid und einige andere junge Forscher zählten. Sie alle waren ehrgeizig, und sie alle hatten plötzlich gemerkt, dass sie sich in rasantem Tempo auf dem Weg an die Spitze ihrer jeweiligen Fächer befanden. Schade nur, dass sie die Früchte ihrer Arbeit mit keinem Wort in wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichen und somit ihren Kollegen im Ausland zur Prüfung vorlegen konnten.
    Nach Finnland kam Rolf nun nicht mehr, aber viele seiner Landsleute besuchten damals Berlin. So hatte Rolf etwa an einem Empfang und einem Abendessen zu Ehren seines Namensvetters Rolf Nevanlinna teilgenommen: der Mathematiker, der schon im Alter von neunundzwanzig Jahren in Göttingen, dem Zentrum der Spitzenmathematiker, Vorlesungen über Funktionstheorie gehalten hatte, weilte zu Gastvorträgen in Berlin.
    Etwa zur gleichen Zeit blühte Rolfs Beziehung zu Ingrid. Zu seiner Freude schloss die Gruppe von Mayer auch zahlreiche Forschungsverträge mit Erbforschern ab, denn man war darauf bedacht, die biologischen und genetischen Folgewirkungen radioaktiver Stoffe gründlich zu untersuchen. Ingrid war an zwei groß angelegten Projekten beteiligt, was Rolf die Möglichkeit eröffnete, mit ihr auch über berufliche Dinge zu reden, die er zuvor hatte geheim halten müssen.
    Wie wichtig die Arbeit war, die Mayers Leute machten, wurde Rolf endgültig Ende Mai 1944 klar, als sich die Atmosphäre in der Versuchsstelle Gottow mit immer stärkerer Spannung auflud. Plötzlich tauchten in großer Anzahl S S-Leute auf, und diese stämmigen Riesen mit ihren kantigen Kinnen und schwarzen |78| Uniformen durchsuchten jeden Winkel der Einrichtung: die »Leibstandarte Adolf Hitler«.
    Rolf sah Hitler dann zum ersten Mal leibhaftig in der Eingangshalle des Instituts stehen. Der Führer hatte sich verspätet, aber wer hätte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen wollen. Mit seinem Adjutanten und Minister Speer an der Seite kam er auf Rolf und dessen Kollegen zu – ein nicht besonders großer, offenbar gut gelaunt oder zumindest höflich lächelnder Mann, mit Oberlippenbärtchen, im grauen Waffenrock des Heeres . . . An der linken Brust erkannte Rolf das berühmte Eiserne Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg.
    Aus dem Augenwinkel verfolgte Rolf, wie Hitler Hände schüttelte. Sie standen in einer militärischen Reihe, die Hitler mit seinem Gefolge abschritt. Vor Doktor Mayer blieb er stehen, um ein paar freundliche Worte mit ihm zu wechseln, dann ging er weiter. Von links rückte das Grüppchen auf Rolf zu. Speer

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