Das Erbe des Bösen
Erscheinen des Artikels gekannt hatte. Damals hatte er das Gefühl gehabt, an der vordersten Front der Wissenschaft zu stehen, denn einer von Hahns Assistenten, Doktor Zwyck, war sein Lehrer.
Alle Wissenschaftler auf der ganzen Welt begriffen, welche Bedeutung Hahns Entdeckung der Kernspaltung hatte. Und kaum dass man von der Kernspaltung sprach, dauerte es auch nicht lange, bis von einer Bombe die Rede war. Eine kontrollierte Kettenreaktion konnte Energie produzieren, eine unkontrollierte |68| Kettenreaktion hingegen ergäbe einen ganz neuartigen Sprengsatz . . .
Wie durch einen gebrochenen Staudamm strömten jetzt die Erinnerungen in Rolfs Bewusstsein. Die Kreide in seiner Hand quietschte in dem muffigen Seminarraum auf der dunkelgrünen Tafel, als die Doktoranden von Professor Reitiger grobe Skizzen von möglichen Atombomben anfertigten. Jemand sagte, man solle die Uranvorräte, die für den industriellen Gebrauch gesammelt worden waren, jetzt besser im Meer versenken. Das würde nichts nützen, korrigierte ein anderer: aus Joachimsthal würde man so viel neues Uran bekommen, wie man wollte, denn infolge der Besatzung waren die tschechischen Bergwerke in deutschen Besitz geraten.
Als er an einem frischen, klaren Morgen im September 1939 die Treppe zum Institut hinaufging, hörte Rolf von einem Assistenten das Gerücht, die Armee habe eine Geheimkonferenz einberufen, um die Uranforschung zu organisieren. Das Gerücht stellte sich schon bald als wahr heraus. Am 5. Oktober fuhren schwarze Limousinen bei strömendem Regen vor dem Institut für Physik vor. Das Heereswaffenamt nahm das gesamte Institut in Beschlag. Gleichzeitig wurde die Zusammenarbeit mit dem Institut für Chemie aufgenommen, denn das natürliche Uranvorkommen enthielt nur ein Prozent fissionstaugliche Uran-23 5-Isotope , und diese zu isolieren stellte eine gewaltige technische Herausforderung dar – aber eben nur eine technische.
Für dieses Projekt des Heeres wurden führende Atomforscher zusammengezogen, auch Doktor Zwyck, der Betreuer von Rolfs gerade im Entstehen begriffenen Dissertation. Die Gruppe erhielt den Namen »Uranverein«. Als Führungspersönlichkeit und Integrationsfigur wirkte Werner Heisenberg, dessen Vorlesungen an der Universität Leipzig Rolf mehrmals besucht hatte.
Rolf erfuhr direkt durch Doktor Liebl von den Entwicklungen im Uranverein, und zu seiner großen Freude durfte er feststellen, dass man dort an den Forschungen für seine Doktorarbeit sehr interessiert war. Das Gleiche galt auch für die Arbeit von Hans |69| und zwei weiteren Doktoranden. Und so avancierten sie gewissermaßen unmerklich zu Assistenten des Uranvereins.
Was für eine Sonderstellung er innehatte, merkte Rolf konkret daran, dass er, entgegen den ursprünglichen Plänen, nicht in die Reihen der finnischen Armee eintreten musste. Dank eines inoffiziellen Abkommens zwischen deutschen und finnischen Stellen durfte er in Deutschland bleiben und seine »wichtige und geheime« Tätigkeit fortsetzen. An Arbeit mangelte es beileibe nicht, denn die Deutschen setzten ernsthaft auf die Kernforschung. Ende Juni 1940 hatten sie schweres Wasser in ihren Depots und in Norwegen eine Firma, die es herstellen konnte, außerdem verfügten sie über tonnenweise hochwertiges Uran, in Paris stand ihnen ein Zyklotron zur Verfügung, sie hatten Physiker, Chemiker und Ingenieure sowie die größte chemische Schwerindustrie der Welt.
Rolf verfolgte, wie am Morgen eines heißen Julitages 1940 Arbeiter anfingen, neben dem physikalischen Institut auf dem Grundstück des Instituts für Biologie und Virusforschung die Grube für ein Fundament auszuheben. Dort begann man mit dem Bau eines besonderen Kernforschungslabors, dem man den Namen »Virushaus« gab, um neugierige Besucher fernzuhalten. Das Gebäude war im Oktober fertiggestellt worden, und es wurde für Rolf und Hans und die anderen in der Gruppe zu einem zweiten Zuhause. »Virushaus« war als Name nicht einmal weit hergeholt, denn Wasser und Strom bezog man aus dem nebenan gelegenen Virenzuchtlabor.
Im Juli fuhr Rolf mit Hans und einem weiteren Kollegen ins norwegische Rjukan, wo sich die weltweit einzige Einrichtung zur Herstellung von schwerem Wasser befand, und zwar im Besitz von Norsk Hydro. Sie reisten bei hochsommerlichen Temperaturen mit der Eisenbahn durch Dänemark und Schweden, und Rolf kam kurz der Gedanke, einen Abstecher nach Helsinki zu unternehmen. Aber es war keine Zeit dafür, außerdem war er auch
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