Das Erbe des Bösen
Gewaltmaschinerie der Krieg führenden Diktatur war ihm bis zu jenem Tag verborgen geblieben.
»Hier haben wir die Produktlinien 21 - 42 des A 4-Lenkkörpers vor uns. Neuerdings ist ein Privatunternehmen für die Produktion verantwortlich, die Mittelwerk GmbH, mit der in der ersten Phase ein Vertrag über die Herstellung von zwölftausend Flugkörpern abgeschlossen worden ist.«
Sie blieben vor einem Arbeitsplatz stehen, an dem vom Vorarbeiter |86| alles säuberlich aufgeteilt und organisiert wurde. Hier herrschte etwas weniger Lärm. Rolf sah den Gesichtern seiner Kollegen an, dass auch sie ihre Erschütterung nur mühsam verbergen konnten.
»Wie viele Flugkörper haben Sie bislang geliefert?«, fragte Doktor Hagen in bemüht sachlichem Ton.
»Fast dreitausend. Der erste schlug am 8. September dieses Jahres in London ein.«
»Und Sie verfügen über ausreichend Arbeitskraft?«, fragte Doktor Brinkbäumer ausdruckslos.
Rolf kannte Brinkbäumer und wusste, dass es unter dessen neutraler Oberfläche brodelte. Er war froh, dass einer der älteren Wissenschaftler das Thema zur Sprache brachte.
»Zum Glück haben wir von Anfang an Arbeitskräfte aus dem nahe gelegenen Lager Buchenwald bekommen. Ursprünglich waren wir ja ein Außenlager, Buchenwald-Dora, aber jetzt sind wir selbstständig tätig: als Mittelwerk GmbH und Mittelwerk Konzentrationslagerr. Konzernchef ist S S-Brigadeführer Hans Kammler. Ein ungemein tüchtiger Mann, der früher unter anderem für die Bauarbeiten von Auschwitz-Birkenau, Majdanek und Bergen-Belsen zuständig gewesen ist.«
»In der gesamten deutschen Industrie scheinen Häftlinge die überwiegende Zahl der Arbeitskräfte auszumachen«, resümierte Doktor Brinkbäumerr, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Mit Sicherheit. Auch wir verfügen in der näheren Umgebung über mehr als vierzig kleinere Außenlager und Werkstätten, wo Flugzeugmotoren und Flugkörperkomponenten gefertigt werden. Und überall werden Häftlinge eingesetzt. Ferner haben wir mehr als zwanzig Zulieferbetriebe: Siemens, AEG, Telefunken, Rheinmetall, BMW, Junkers, um nur einige zu nennen. Auch diese Firmen würden mit deutschen Lohnarbeitern allein ihren Betrieb kaum aufrechterhalten können . . .«
»Wie viele Arbeiter haben Sie denn insgesamt?« Allmählich sah man Brinkbäumer die Erschütterung und den Ekel an, aber Keller in seinem Eifer schien davon nichts zu bemerken.
|87| »Derzeit fast siebzehntausend. Wir fahren ständig im Zweischichtbetrieb. Jede Schicht dauert zwölf Stunden, alle vier Wochen wird zwischen Tag- und Nachtschicht gewechselt. Unser Produktionsleiter Arthur Rudolph ist äußerst geschickt, wenn es darum geht, aus minimalen Ressourcen das Maximum an Effizienz herauszuholen. Nebenbei bemerkt, arbeiten auch die deutschen Angestellten, einschließlich Arbeitsleitung und Ingenieuren, im selben Rhythmus«, sagte Keller voller Stolz. »Aber es gibt auch Probleme. Mit Typhus und Tuberkulose zum Beispiel wird es immer schlimmer. Die ungünstigste Phase war der Bau der Stollen, aber auch jetzt werden ständig neue Arbeitskräfte gebraucht.«
Sie setzten ihren Rundgang im Vorhof der Hölle fort – dieser Ort schien sich in unmittelbarer Nähe zur Wohnstatt des Teufels zu befinden. Links erschien ein Nebengang, der deutlich höher war als die anderen Räume. Rolf zuckte zusammen, als er drei fünfzehn Meter lange, fertige Lenkflugkörper in aufrechter Position dort stehen sah. Raketen waren immer seine Leidenschaft gewesen, und jetzt hatte er auf einmal die größten und fortschrittlichsten Raketen der Welt vor Augen.
Hinter ihnen hing jedoch etwas, das im Dunkeln zunächst nur schwer zu erkennen war, aber Rolfs ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Entsetzen überflutete ihn, als er langsam begrifff, was er dort sah.
»Meine Herren: Saal 41«, setzte Oberingenieur Keller seine großspurige Führung fort. »Für die letzten Treibstofftests und gyroskopischen Versuche müssen die Flugkörper in aufrechte Position gebracht werden. Von hier aus werden sie dann direkt zu den Abschussrampen in Norddeutschland und Holland gebracht.«
Rolf hörte Kellers Stimme, achtete aber nicht auf den Inhalt der Worte. Er starrte voller Entsetzen auf die massiven Raketen – und die Leichen der Männer, die dahinter an Seilen baumelten.
Man hatte sie alle erhängt.
Auch die anderen Mitglieder der Gruppe hatten die Gehenkten |88| inzwischen bemerkt, aber Keller fuhr ungerührt fort: »Die Gefechtsköpfe
Weitere Kostenlose Bücher