Das Erbe des Bösen
dabei dem extrem genialen, inspirierenden und unkonventionellen von Braun, der nur sechs Jahre älter war als er. Auch von Braun war von Haus aus Physiker und sehr an der Atomforschung interessiert, da sie der Raumfahrt ganz neue Möglichkeiten eröffnete. Und der galt von Brauns hauptsächliches Interesse. Die Armee war für ihn nur ein Mittel, die Raketenforschung zu finanzieren, deren Ziel darin bestand, den Menschen in den Weltraum zu befördern, sogar bis auf den Mond. Von Braun und seine Mitarbeiter hatten die Zweistufenraketen A9/A10 entworfen, mit denen es möglich gewesen wäre, ins Weltall zu gelangen – oder bis an die amerikanische Ostküste, denn die Reichweite betrug viertausendeinhundert Kilometer. Ein Angriff auf New York wurde erwogen und in allen Einzelheiten geplant. Den Schätzungen nach sollte die A9/A10, die erste Interkontinentalrakete der Welt, im Frühjahr 1946 fertig werden, aber der Krieg war bereits ein Jahr zuvor vorbei.
Auch Mayers Gruppe blieb nicht genügend Zeit. Es gab angereichertes Uran und es wurden Versuche gemacht, aber sie bekamen weder rechtzeitig eine Bombe zustande noch einen funktionierenden Forschungsreaktor. Die Russen rückten von Osten her näher und die Alliierten unaufhaltsam aus dem Westen. Am 28. März 1945 erfuhren Rolf und seine Kollegen von Mayer, dass die Arbeiten in Stadtilm eingestellt werden mussten. Das angereicherte Uran wollte man in ein Versteck bringen, und für diese Operation hatte man Rolf und Hans ausgewählt.
Jetzt ließ man Rolf intensiv an jenen Tag zurückdenken. Und er erinnerte sich tatsächlich, sogar einigermaßen genau, was er |91| an jenem Tag gesehen und gehört hatte. Aber noch nicht genau genug.
Und selbst wenn sie das Versteck finden sollten – würde sich das Uran überhaupt noch dort befinden?
In zahllosen Nächten hatte Rolf im Laufe seines Lebens darüber nachgedacht, warum manche Ereignisse genauer und lebendiger in Erinnerung blieben als andere. Natürlich wirkte es sich auf die Präzision der Erinnerungen aus, wenn in späteren Jahren Dinge geschahen, die sie auffrischten. Und was die Mittelwerke betraf, so hatten sich bedauerlich viele Gedächtnis auffrischende Dinge ereignet.
Erst später war ihm aufgegangen, dass Mittelwerke ein Tarnname für Mittelbau Dora und in Wahrheit ein Vernichtungslager gewesen war, nur eines ohne Gaskammer. Als Mittel zum Töten hatte die Arbeit gedient. In den knapp zwei Jahren ihres Bestehens hatte man sechzigtausend Häftlinge in das sogenannte Mittelwerk geschafft, von denen ein Drittel ums Leben kam: Zwanzigtausend Menschen starben – zum größten Teil durch Erschöpfung. Die durchschnittliche restliche Lebenszeit in Mittelbau Dora betrug sechs Monate.
Für Rolf war es ein Schock gewesen, als er nach dem Krieg in den USA, kurz vor seiner Finnlandreise im Juni 1950, Arthur Rudolph, den ehemaligen Produktionsleiter des Mittelwerks, als Vorgesetzten bekam. Rudolph wurde damals zum technischen Leiter des in der Nachfolge der V2 entwickelten Redstone-Lenkflugkörper-Projekts in Huntsville ernannt. Rolfs Projekt – die gemeinsame Anstrengung von Mayers Urangruppe und von Brauns Raketenteam – hatte sich in Deutschland nicht mehr realisieren lassen, aber in den USA gelang es: im August 1958 beförderte eine Redstone-Rakete eine Atombombe von 3,75 Megatonnen in die Atmosphäre, und danach zahlreiche weitere. Acht Exemplare der verbesserten V 2-Versionen kehrten auch nach Westdeutschland zurück. Die Saturn V, die dem Apollo-Programm zugrunde lag, basierte auf der Mehrstufenrakete A9/A10. Und ohne von Braun und dessen deutsche Mitarbeiter |92| wären 1969 keine amerikanischen Astronauten auf dem Mond gelandet.
In dem Moment ging die Tür auf, und Rolf fuhr zusammen. Er war fast erleichtert, dass Hoffmann hereinkam und ihn aus seinen Gedanken riss. Die Erleichterung verschwand jedoch sogleich, als er Hoffmanns Gesichtsausdruck sah und dessen eiskalt hervorgezischte Worte hörte: »So, verehrter Herr Wissenschaftler. Wer bereit ist, für die Nazis eine Bombe zu bauen, der sollte auch sechzig Jahre später bereit sein, die Folgen zu tragen. Aufstehen!«
Hoffmann löste die Handschellen vom Stuhl, packte Rolf am Arm und zerrte ihn unsanft hoch.
»Wir fahren jetzt in den Thüringer Wald. Es ist an der Zeit, die Geheimnisse der Vergangenheit ans Tageslicht zu holen.«
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Die Passagierkabine des Airbus von Helsinki nach Berlin war nur zur Hälfte besetzt. Erik hatte seine
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