Das Erbe des Bösen
werden erst an den Flugkörper-Fr euerstellen angebracht. Die Reichweite ist nicht größer als bei der V1, sie reicht zum Beispiel bis London. Das Abfluggewicht beträgt zwölftausendneunhundert Kilo, die maximale Geschwindigkeit sechstausendvierhundert Kilometer pro Stunde . . .«
Keller legte eine Pause ein. Rolf spürte, wie ihm schlecht wurde. Er wollte sich auf die unglaublichen technischen Werte konzentrieren, aber er musste seine gesamte Kraft aufwenden, um gegen die Übelkeit anzukämpfen.
Ohne auch nur einen Blick auf die Erhängten zu werfen, sagte Keller: »Ich bemerke Ihre Verwunderung. Hin und wieder kommt es zu Sabotageakten, aber da jeder Arbeitsschritt mit der Kennziffer des betreffenden Arbeiters verzeichnet wird, kommen wir sofort dahinter. Selbstverständlich wird jeder Sabotageversuch mit dem Tode bestraft, was naturgemäß die einschlägigen Störungen in der Produktion minimiert. Aber wo waren wir stehengeblieben . . . Die Maximalgeschwindigkeit beträgt also sechstausendvierhundert Kilometer pro Stunde, die Gesamtflugzeit ungefähr fünf Minuten und die Sprengstoffmasse des Gefechtskopfs neunhundertachtzig Kilo. So viel wie eine Vakuumbombe also. Die Sprengladung müsste unbedingt größer sein, aber das ist unmöglich.«
»Oder man müsste sie effektiver gestalten«, sagte Doktor Hagen leise.
»Das ist dasselbe«, gab Keller gereizt zurück. »Ich bin gebeten worden, Ihnen unsere Produktion vorzustellen, und jetzt bin ich interessiert zu hören, was Sie zu uns führt.«
Doktor Hagen räusperte sich, und Rolf sah, dass er fast ängstlich wirkte. »Unser Thema hat eben mit der Effizienz der Gefechtsköpfe zu tun«, murmelte Hagen widerwillig. »Wir beschäftigen uns mit der Möglichkeit, einen Sprengstoff völlig neuer Art in den Gefechtsköpfen zu installieren. Mit einer Stärke von vielleicht . . . sagen wir tausend Vakuumbomben.«
Die Miene von Oberingenieur Keller hellte sich auf. »Sie meinen: |89| die geheime Wunderwaffe? Wie groß könnte denn eine solche Sprengladung sein?«
»Wir sind noch nicht annähernd so weit, über eine fertige Sprengladung sprechen zu können, aber wir wollen damit beginnen, Aufschluss über ihren Transport ans Ziel zu bekommen. Allen Schätzungen nach könnte sie in der Größenordnung einer Ananas liegen.«
Keller strahlte begeistert. »Besorgen Sie uns so schnell wie möglich ein solche ›Ananas‹. Wir befördern sie dann – unter Berücksichtigung der begrenzten Reichweite – überall dorthin, wo der Führer es will. Schnell und präzise. Die kleinere Nutzlast wird die Reichweite des Flugkörpers sogar ein wenig verlängern . . . Doktor von Braun und seine Leute können so etwas rasch klären. Nein, ich korrigiere mich: Bringen Sie uns Hunderte von diesen Bomben! Oder noch besser: Tausende!«
Aus Kellers Tonfall war keine ausgesprochene Mordlust herauszuhören, sondern einfach pure, jungenhafte – und sicherlich auch patriotische – Begeisterung. Rolf wurde schwindelig. Tausend Atombomben in den Händen einer solchen Regierung . . . Er wäre am liebsten auf der Stelle nach Finnland geflohen und hätte vergessen, jemals in dieses Land gekommen zu sein.
Und doch blieb er einfach an seinem Platz stehen, ebenso verlegen und beklommen wie seine Kollegen ob Kellers euphorischem Ausbruch. Und – bei aller Scham – richtete er den Blick interessiert wieder auf die Rakete und speziell auf ihren Kopf. Dort lag sein Arbeitsgebiet.
Zum Schluss stellte Keller im Büro Rolfs Atomforschungsgruppe dem V 2-Produktionsleiter von Mittelbau, Arthur Rudolph, sowie der übrigen technischen Führung vor. Rolf lernte Männer kennen, über deren Errungenschaften in der Raketenentwicklung er schon vor Jahren gelesen hatte, und er begriff, dass die Möglichkeit bestand, später sogar mit seinem großen Idol zu sprechen, mit Wernher von Braun, dem Vater des gesamten Raketenprogramms.
Beim Verlassen der Schächte wusste Rolf plötzlich, dass er von |90| nun an ein anderer Mensch war. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu die Großmacht der Technik und der Wissenschaft sich entwürdigt hatte, und gleichzeitig verstand er, dass er selbst kein bisschen besser war. Besaß er nicht den Mut oder wenigstens den Willen, sich von der Gruppe loszusagen? Alles hinter sich zu lassen? Nein. Er wehrte den Gedanken ab, indem er sich einredete, keine Wahl zu haben. So war es. Er hatte keine Wahl.
Und so begann die Zusammenarbeit mit dem Mittelwerk. Mehrere Male begegnete Rolf
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