Das Erbe des Bösen
abgewetzte Ledertasche auf den Sitz neben sich gelegt und las konzentriert, Seite für Seite, das Buch, das ihm der Historiker Kohonen geliehen hatte.
Dass die Amerikaner deutsche Wissenschaftler akquirierten, war doppelt motiviert: Einerseits wollte man verhindern, dass die Experten unter die Kontrolle der Sowjetunion gerieten, andererseits wollte man ihre Kompetenz in den Vereinigten Staaten nutzen. Das besondere Interesse der Amerikaner richtete sich auf die V 2-Rakten und auf die Luftfahrttechnik, denn schon damals hatten die Deutschen als erste in der Welt ein Düsenflugzeug gebaut. Die Forscher aus dem Bereich der Atomtechnologie wurden im Zuge noch geheimerer nachrichtendienstlicher Operationen ins Visier genommen: bei den so genannten ALSO S-Missionen .
Die größte Aufmerksamkeit schenkte das Buch dem Genie der Raketentechnik, Wernher von Braun, und einigen seiner Mitarbeiter, insbesondere Arthur Rudolph. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen hatten Zeugen unter Eid über Rudolphs Beteiligung an Grausamkeiten in der unterirdischen V 2-Raketenfabrik ausgesagt. Trotzdem hatte Rudolph die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Seine Erfahrung bei der V 2-Raketenproduktion wog für die Amerikaner mehr als das Schicksal von zwanzigtausend Gefangenen.
Erst 1982 fingen die Behörden der Vereinigten Staaten an, sich für die Kriegsvergangenheit der inzwischen ihr Rentnerdasein in Kalifornien genießenden Veteranen der Redstone-, Pershing- |94| und Apollo-Programme zu interessieren. Rudolph gab daraufhin seine amerikanische Staatsbürgerschaft zurück und zog nach Hamburg, wo er 1996 starb.
Erik ließ das Buch in den Schoß sinken und lehnte den Kopf zurück. Das Schlimmste für ihn war nicht einmal die Tatsache, dass sein Vater womöglich in Nazideutschland gearbeitet hatte und erst anschließend in die USA gegangen war. Das Schlimmste war, dass sein Vater ihn sein ganzes Leben lang belogen hatte. Oder zumindest wesentliche Dinge aus seiner Vergangenheit verschwiegen hatte.
Warum?
Niemand würde so etwas tun, wenn er nicht etwas besonders Düsteres zu verheimlichen hätte. War sein Vater ein überzeugter Nazi gewesen? Hatte er sich schrecklicher Verbrechen schuldig gemacht?
Beim Lesen war Erik klar geworden, dass die U S-Armee im Zuge der Operation Paperclip sämtliche Nazihinweise aus den Biografien der Wissenschaftler getilgt hatte, denn Präsident Truman hatte »aktiven Mitgliedern der Nazipartei« den Zutritt in die Vereinigten Staaten verboten.
Aber das Know-how der Wissenschaftler und ihre Erfahrungen hatten offenbar stärker gewogen als ihre NSDA P-Mitgliedschaft . Erik fragte sich, ob der Fall seines Vaters ähnlich gelagert war.
Allein der Gedanke kam ihm völlig abwegig vor.
Man hatte ihm wieder Handschellen angelegt, als er neben Hoffmann im Audi saß, und wieder saß Manfred am Steuer.
Mit jeder Sekunde spürte Rolf den Druck wachsen. Jeder Blick aus dem Wagenfenster löste in ihm eine Lawine von Erinnerungen aus. Durch die Windschutzscheibe sah Rolf die schnurgerade Straße, die durch den Grunewald führte. Hier war er zum ersten Mal mit Hans gefahren, im Herbst 1937, es war die Avus, die Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße. Wie es seine Art war, hatte Hans detailliert über den neunzehn Kilometer langen Autobahnabschnitt |95| referiert, mit bis auf den Zentimeter genauen Längenangaben und auf ein Zehntel Grad exaktem Neigungswinkel. Bei den Olympischen Spielen ein Jahr zuvor war sie für den Marathon und das 5 0-Kilometer -Gehen benutzt worden. In Hans’ Stimme lagen Stolz und ein väterlicher Unterton, obwohl er nur ein Jahr älter war als Rolf. Aber Rolf kam schließlich aus dem fernen Finnland – der puren Rückständigkeit jenseits der Ostsee. Freilich hatte Hans bald feststellen müssen, dass das Herkunftsland nichts über die Intelligenz eines Menschen aussagte.
Aber was für einen Nutzen hatte seine Intelligenz für Rolf gehabt? Sie war es letztlich, die ihn auf den falschen Weg geführt hatte, sie hatte ihn die Stimme seines Herzens unter der Übermacht seines Geistes vergessen lassen.
Rolf änderte seine unbequeme Sitzposition auf der Rückbank. Jetzt, nach so vielen Jahren noch, wurde er für seine falschen Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen. Und jetzt, einmal noch, würde er sein Gehirn benötigen. Er musste sich die Erinnerungen an den vorletzten Tag des März 1945 ins Gedächtnis rufen . . .
Es war ein regnerischer Abend, der bereits in die
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