Das Erbe des Bösen
Nacht überging. Vor dem bescheidenen Institut in Stadtilm fuhren vier Motorräder mit Beiwagen vor, ein Geländewagen und zwei kleine Lastwagen mit Pritsche, alle ohne Licht. Zwei Mercedes der Sicherheitspolizei mit lang gestreckten Motorhauben warteten bereits. Die Polizisten in ihren schwarzen Ledermänteln knallten die Hacken zusammen und hoben die Hand zum Nazigruß, sobald sie die Rangabzeichen der S S-Offiziere auf dem Rücksitz des Geländewagens erkannten. Die Offiziere erwiderten den Gruß beiläufig und marschierten direkt auf den Eingang des Instituts zu.
Rolf, Hans und zwei Assistenten setzten sich in Bewegung. Mühsam und schweigend trugen sie einen schweren Behälter von der Größe eines Reisekoffers. Er beinhaltete den gesamten Vorrat an angereichertem Uran, über den das Reich verfügte, knapp hundertsiebzig Gramm. Das Gewicht kam von der dicken Bleiummantelung.
Die Offiziere führten die Träger zu dem vorderen Lastwagen, |96| befahlen den Soldaten, von der Ladefläche herunterzusteigen, und ließen die Fracht aufladen. Rolf warf einen raschen Blick auf die Offiziere: ein Standartenführer und ein Sturmbannführer, Männer im Rang von Oberst und Major. Über das wie in Stein gemeißelte Gesicht des Standartenführers lief eine böse, noch immer rosa schimmernde Wunde, vielleicht von einem Granatsplitter, von der rechten Schläfe quer über die Wange bis zur Kinnspitze. Der linke Arm des Sturmbannführers war unterhalb des Ellenbogens amputiert. Beide trugen das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Unter der Führung dieser Herren würden sie immerhin durch die Straßensperren der SS kommen.
»Eine Erinnerung von der Weichselfront«, sagte der Narbenoberst schroff zu Rolf.
Offenbar war ihm Rolfs entsetzter Blick nicht entgangen.
»Entschuldigen Sie, Herr Standartenführer, ich wollte nicht . . .«
Rolf beschloss auf der Stelle, während der Fahrt möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen.
Der Standartenführer bedeutete den sechzehn S S-Männern , wieder auf die Ladefläche zu steigen und sich um den Behälter zu gruppieren, da kam Doktor Mayer im Laufschritt hinzu.
Er reichte dem Standartenführer, dem Sturmbannführer, Hans und Rolf vier identisch aussehende Briefumschläge. Rolf warf einen Blick darauf: »Reichssicherheitshauptamt«, Adler und Hakenkreuz.
Mayer bemerkte Rolfs Erstaunen. »Mach den Umschlag auf, mein Junge.«
Rasch überflog Rolf den kurzen Text: »Passierschein des Reichsicherheitshauptamtes für die Strecke Stadtilm – Tabarz – Brotterode und zurück. Der Konvoi darf nicht aufgehalten oder in irgendeiner Weise behindert werden. Trotz seiner nichtdeutschen Staatsbürgerschaft steht Dr. Narva unter dem Schutz der SS.«
Unterschrift: »Ernst Kaltenbrunner, Reichssicherheitshauptamt.«
|97| Darunter der Name in Reinschrift und der Amtsstempel.
Ein unbestreitbar nützliches Dokument.
»Du und Hans, ihr könnt es im Futter eurer Jacken verstecken. Haltet es für alle Fälle bereit«, flüsterte Diebner außer Atem. »Und gebt genau auf eure Pässe und die Sondergenehmigungen des Instituts acht. Aber natürlich nur solange, bis ihr auf Amerikaner stoßt!«
Mayer musste sich kurz sammeln, bevor er fortfahren konnte. »Wenn ihr auf Amerikaner trefft, verbrennt ihr den Brief und eure Arbeitserlaubnis sofort. Behaltet dann nur die Pässe. Vor allem du, Rolf, kommst dann unter Umständen schnell nach Hause. Dein finnischer Pass kann von Vorteil sein. Du sagst einfach, dass du Zwangsarbeiter bist. Und für dich, Hans, habe ich hier ein Zeugnis, das bezeugt, dass du im Dienst der Elektrizitätswerke gestanden hast. Auf jeden Fall: Geht nicht nach Berlin! Sucht euch von mir aus einen Bauernhof und bittet darum, euch dort verstecken zu dürfen. Wenn ihr euren Auftrag ausgeführt habt, wartet ihr auf die Amerikaner . . .«
»Jetzt ist Schluss mit dem Geflüster! Oder hat der Herr Doktor etwas zu verheimlichen?«
Der Blick des Narbengesichts kündete von großem Misstrauen, seine Stimme war eisig. »Die Amerikaner sind weit weg und man wird sie zurückschlagen. Wie auch die Russen. Noch ist nichts verloren, und wissen Sie auch, warum, Herr Doktor?« Mayer schluckte, drückte den Rücken durch und sagte klar und deutlich: »Weil Deutschland vernichtet ist, wenn wir eine Niederlage erleiden, Herr Standartenführer.«
Die einzige richtige Antwort eines klugen Mannes, dachte Rolf.
Zum Glück hatte der Standartenführer keine Zeit für weitere Ausführungen über das Ziel und
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