Das Erbe des Bösen
zu je vier Mann eingeteilt.
Rolf hievte mit Hans und zwei Polizisten den Behälter von der Ladefläche. Hinter Bäumen und Büschen ragte ein großes, prächtiges Gebäude auf, das jetzt verlassen dalag. Einige der hohen Fenster waren vernagelt, die meisten klafften als schwarze Löcher in der Fassade. Es handelte sich um eine Art Herrenhaus, und es musste mit dem Bergwerk in Verbindung stehen, auch wenn die Entfernung ein oder zwei Kilometer betrug, denn sonst gab es keine Besiedlung in der Umgebung. Vielleicht hatte hier einst die Leitung des Bergbauunternehmens gewohnt, oder aber es hatte als Kontor gedient.
Aus dem Gespräch der Offiziere und Polizisten meinte Rolf mit einem Ohr entnehmen zu können, dass man sich in der alten Heimat des Sturmbannführers befand. Wie praktisch, dachte Rolf. So brauchte man keine Ortsansässigen einzuweihen. Und die Männer von der Waffen-SS würden nicht reden, soviel war sicher. »Ehre und Treue«, »Zähigkeit und Verwegenheit« sowie »rigoroses Soldatentum«. In der Welt dieser Männer hatte nichts anderes Platz.
Plötzlich lief es Rolf eiskalt den Rücken hinunter, und das kam |104| nicht von den Minusgeraden. Würde sich die SS darauf verlassen, dass er und Hans den Mund hielten? Der Narbengesichtoberst konnte durchaus von Kaltenbrunner selbst den mündlichen Befehl erhalten haben, die Zivilisten zum Schweigen zu bringen. Zumal sie nur zu zweit waren, und Rolf nicht einmal Deutscher . . . Zu allem Überfluss war man als Finne mittlerweile auch noch Angehöriger eines verräterischen, feindlichen Volkes, nachdem Finnland 1944 ein Friedensabkommen mit der Sowjetunion geschlossen hatte. Zum ersten Mal im Leben spürte Rolf, wie ihn echte Todesangst überfiel.
Der Sturmbannführer befahl den Soldaten, sich in zwei Gruppen zu vier Mann aufzuteilen – die eine sollte bei den Fahrzeugen bleiben, die andere Hans und Rolf begleiten, die den Bleibehälter schleppten.
Nach wenigen Schritten bemerkte Rolf die Grabsteine. In dem parkartigen Waldstück lag ein kleiner Friedhof. Sofort musste er an den alten Kirchhof in Helsinki denken, aber dieses Areal hier war wesentlich kleiner, und die Grabsteine standen dichter, viele waren umgestürzt und von Moos bedeckt. Hier und da wuchs hohes Gras, an anderen Stellen überzog von Moos durchsetzter Rasen die Gräber und Wege. In der entferntesten Ecke stand eine verfallene, in verblasstem Hellgelb gestrichene Kapelle, deren Putz an vielen Stellen abgebröckelt war. Die hohen Fenster waren allesamt eingeschlagen.
Auf einigen Grabsteinen waren Jahreszahlen aus dem 17. Jahrhundert zu lesen, und auf allen stand der Name des selben Adelsgeschlechts. Der Standartenführer und der Sturmbannführer brachten Rolf, Hans, einen Standartenoberjunker und vier Polizisten mit dem Behälter, einer Blechkiste und zwei Schaufeln auf die neuere Seite des Friedhofs, in die Nähe der Kapelle. Der Sturmbannführer deutete auf einen kleinen, schief stehenden Grabstein, und der Standartenführer nickte zustimmend.
Der Standartenoberjunker warf Rolf und Hans die Schaufeln zu. »Also los, ausheben!«
»Das ist ja wieder klar. Die Zivilisten dürfen die Schwerarbeit |105| machen«, flüsterte Hans, als er die Schaufel ins dicke Moos rammte.
Unmittelbar vor einem Grabstein hoben sie eine nur etwas mehr als einen Meter tiefe Grube von gut einem Quadratmeter Größe aus. Als sie fertig waren, stellten die Polizisten zuerst die Blechkiste in die Grube, dann ließen sie mit Lederriemen den Bleibehälter in die Kiste hinab. Zum Schluss legte der Standartenoberjunker einen Deckel auf die Kiste und verschloss sie mit zwei massiven Vorhängeschlössern.
Immerhin hat man uns noch nicht befohlen, unsere eigenen Gräber auszuheben, dachte Rolf . . .
Jetzt, auf der Rückbank des Audi, konnte er sich wieder an das Gelände erinnern. Noch deutlicher erinnerte er sich an das Bergwerk und das Herrenhaus. Aber im Thüringer Wald gab es mehrere alte Bergwerke. Und er konnte seine Entführer nicht aufs Geratewohl durch die Gegend fahren lassen.
Vor allem aber: auch wenn sie den kleinen Familienfriedhoff fänden – welches war das richtige Grab? Was hatte auf dem Grabstein gestanden? Sie konnten auf keinen Fall jedes einzelne Grab ausheben.
In Rolf stieg die Angst erneut auf.
Dann kam ihm ein neuer Gedanke: Hatte Hans womöglich irgendwann Katharina von dem Versteck erzählt? Das war absolut denkbar. Wenn Hans dumm genug gewesen war, solche Dinge in sein Tagebuch zu
Weitere Kostenlose Bücher