Das Erbe des Bösen
Regenwolken trübten den Nachmittag, aber noch war es trocken. Das große, moderne Einfamilienhaus mit Garten in der Mizen Close in Cobham sah aus wie immer. Ziergitter aus dunklem Ebenholz gaben dem Haus ein Gesicht. Ingrid hatte das Anwesen Anfang der Achtzigerjahre bei ihrem Umzug nach England gekauft. Das Geld stammte aus dem schwedischen Erbe, das sie von ihrem Vater Anders hinterlassen bekommen hatte. Anders war im Alter von sechsundneunzig Jahren gestorben, und Katja wusste von ihm nur, dass ihm eine große Maschinenfabrik gehört hatte, die in den Fünfzigerjahren verkauft worden war.
In der Anfangszeit von Gendo hatte jeder Quadratzentimeter von Ingrids Haus als Sicherheit für die Kredite der Firma hergehalten. Dafür war Katja ihrer Schwiegermutter dankbar. Sie wagte es nicht einmal, sich den aktuellen Wert des Hauses vorzustellen, nachdem die Preise am Londoner Stadtrand in astronomische Höhen geschossen waren. Ingrid war Eriks Firma ungemein wichtig, so wichtig, dass man fast schon darüber schmunzeln konnte. Doch manchmal war das auch anstrengend. Katjas Schwiegermutter verfolgte noch immer aktiv, was in der Welt der Wissenschaft vor sich ging, und trug ihre Ansichten nur allzu bereitwillig vor. Tatsächlich hatten Katja und Erik das ein oder andere Mal zugeben müssen, dass es sich lohnte, Ingrid |210| zuzuhören. Katja und Erik waren oft zu sehr von den Routinen in der Firma und ihrem familiären Alltag beansprucht, während Ingrid nichts anderes zu tun hatte, als wissenschaftliche Publikationen zu lesen und die Forschungsprogramme der Universitäten zu verfolgen. Es war ihr daher auch gelungen, einige äußerst fähige Wissenschaftler für Gendo zu finden, zuletzt Carl Möller. Insofern war es absolut begründet, dass Ingrid noch immer im Firmenvorstand saß.
Schweren Herzens griff Katja nach dem Türklopfer in Löwenform. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Schwiegermutter sich keine Klingel installieren ließ. Ich bin ein altmodischer Mensch, hatte Ingrid gesagt. Sie wollte, dass bei ihr angeklopft wurde. Als wollte sie von sich das Bild eines Menschen mit Vorbehalten gegenüber der Technik vermitteln. Das wiederum stand in unmittelbarem Widerspruch zu ihrem wissenschaftlich geprägten Weltbild und ihrer Intelligenz. Und genau diese Art von seltsamem Rollenspiel machte Ingrid zu einem Menschen, zu dem man besser Abstand hielt. Ob sie auch jetzt, in dieser Situation, eine Rolle spielen wird?, fragte sich Katja, als die Tür aufging.
»Frau Narva, das ist aber eine Überraschung!«
Lena, Ingrids vierzigjährige, stets korrekt gekleidete Haushaltshilfe, ließ ein etwas aufgesetztes Lächeln aufblitzen. Sie ist genauso eine Schauspielerin wie ihre Hausherrin, dachte Katja.
»Frau Stormare ist in ihrer Bibliothek. Bitte sehr.«
In der hohen Eingangshalle strahlten die farbenfrohen Gemälde und die von antiken Sportlerjünglingen inspirierten Marmorstatuen in geradezu unwirklicher Reinheit unter dem Licht der Halogenspots. Lena öffnete Katja die Tür zur Bibliothek, und Katja bewunderte wieder einmal die gewaltige Anzahl von Büchern, die die Errungenschaften der Wissenschaft und die Weisheit der Wissenschaftler in sich versammelten. Die Atmosphäre war würdevoll und erhaben, beinahe majestätisch. Die Bücher standen exakt ausgerichtet in den Regalen ringsum, die Beleuchtung war gedämpft, auf dem Boden lag ein Perserteppich. Katja |211| wusste, dass sich in diesem Raum eine wirklich bedeutsame Anzahl wissenschaftlicher Werke befand. Ingrid konnte auf eine lange Karriere an verschiedenen amerikanischen Strahlenforschungsinstituten zurückblicken.
»Katja«, sagte Ingrid von ihrem großen Tisch aus.
Unter der Lampe vor ihr lagen eine Nummer des ›Mankind Quarterly‹, ein Notizbuch voller Aufzeichnungen und ein alter Montblanc-Füller.
Ingrid stand auf. Sie war wie immer sorgfältig gekleidet und kam mit für ihr Alter forschen Schritten auf Katja zu. Erst in den letzten Jahren war ihr Gang nicht mehr ganz so aufrecht.
»Das ist aber eine freudige Überraschung.« Sie ergriff Katjas Hände und umarmte sie leicht, als wollte sie die letzte Begegnung, die so spannungsgeladen geendet hatte, wiedergutmachen.
Ihre großen, blauen Augen verrieten Katja nicht, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg.
Eine glänzende Schauspielerin, eine große Diva.
Die Augenwinkel ihrer Schwiegermutter waren gezeichnet von haarfeinen Fältchen, aber ansonsten war ihre Haut straff und ausgesprochen gepflegt.
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