Das Erbe des Bösen
beschlossen, sie auszuprobieren . . .«
Wieder kurzes Schweigen.
Erik schloss die Augen. Ein Passant rempelte ihn an, doch er registrierte es kaum.
»Es tut mir leid, aber Rolf Narva ist tot. Er ist Opfer eines Autounfalls geworden.«
Eriks Hände zitterten. Er blickte sich um, als hielte er nach einem Fluchtweg Ausschau. Er wollte die deutschen Worte nicht hören, nicht diese Worte. Er weigerte sich, ihnen zu glauben, obwohl er schon die ganze Zeit das Schlimmste befürchtet hatte.
»Sind Sie sicher?«, stammelte er.
»Außer dem Handy hatte er seinen Pass und sein Portemonnaie bei sich. Das Bild stimmt überein. Es tut mir leid.«
»Wo . . .?«
»Weit außerhalb von Berlin. In der Nähe einer Ortschaft namens Gottow.«
Erik ging einige Schritte, dann ließ er sich auf die Bordsteinkante sinken. Ohne sich um das Hupen der Autos und die starrenden Passanten zu kümmern, saß er dort, das Gesicht in den Händen vergraben. Sein Handy war auf die Straße gefallen.
In seinem Kopf hallten die deutschen Worte wider: Wer sind Sie? Ob er auf diese Frage jemals eine Antwort erhalten würde – jetzt, da sein Vater tot war?
|202| 30
Katja ging mit einer Tasse Tee in der Hand durchs Haus. Die Dielen unter dem abgenutzten Teppichboden knarrten. Draußen schlummerte üppig grün und still der verwilderte Garten. Das Dorf Ripley, das zu Surrey gehörte, lag in einer friedlichen Gegend am Rand von London.
Katja warf einen Blick in das enge Kinderzimmerr, in dem Emil und Olivia mit der Wii-Konsole spielten und dabei heftig mit der Steuerung herumfuchtelten.
»He, geht nicht so dicht an den Fernseher heran! Wie oft soll ich euch das noch sagen! Und räumt jetzt langsam mal euren Kram in den Schrank, ihr könnt euch da drinnen ja bald nicht mehr bewegen.«
An der Zimmerdecke hingen an Angelschnüren eine Apollo-Mondlandefähre, ein SpaceLab und eine Raumfähre. Im Regal stand eine ganze Raketenserie von Saturn I bis V, sogar bis Saturn VI, die noch auf den Zeichentischen der NASA lag. Ihr Großvater hatte ihnen im vorigen Sommer das Kennedy-Weltraumzentrum gezeigt, auch jene Bereiche, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Rolf war schon zwei Wochen früher nach Kennedy geflogen, und Katja war überrascht gewesen, mit welcher Herzlichkeit das heutige Personal des Weltraumzentrums dem NAS A-Veteranen begegnet war. Der Grund war ein sehr praktischer: Bei der NASA liefen die Planungen für einen bemannten Flug zum Mond, und aus finanziellen Gründen basierte das Projekt auf dem Apollo-Programm, das sich in der Praxis bewährt hatte. Und auch wenn alles genau dokumentiert war, konsultierte man in den Grundfragen des Fliegens zwischen Erde |203| und Mond die Apollo-Veteranen – von denen es nur noch wenige gab. So waren zum Beispiel die Flugbahnen selbst mit modernen Computern immer noch äußerst schwer zu berechnen.
Rolf hatte in Emil echte Begeisterung für das Weltall geweckt. Olivia war wie ihr Vater und ihre Großmutter mehr an Biologie interessiert. Aber das gerahmte Foto an der Wand, das Rolf ihnen geschenkt hatte, war ihr gemeinsamer Schatz: Es war ein Foto von Neil Armstrong, das er ihnen sechs Jahre zuvor eigenhändig signiert hatte.
Katja ging die Treppe hinauf. Das Haus stammte aus den Dreißigerjahren und musste dringend renoviert werden. Sie hatten die Renovierung eigentlich sofort nach dem Kauf vor vier Jahren machen wollen, aber da sie beruflich so viel zu tun gehabt hatten, war es bei der Installation der Sonnenkollektoren geblieben. Gendo hatte sich damals in seiner kritischsten Wachstumsphase befunden. Abgesehen davon legte Katja auch nicht mehr Wert auf Stil als Erik. Hauptsache, die nötige Technik im Haus funktionierte einigermaßen: Das Wasser kam in der richtigen Temperatur aus der Dusche, wenn man die Hähne in der genau richtigen Reihenfolge und im richtigen Verhältnis zueinander aufdrehte, und wenn es draußen sehr kalt war, wurden die Heizkörper immerhin lauwarm.
Katja stellte die Teetasse auf die Zeitung, die auf ihrem Schreibtisch lag, und loggte sich ins Intranet von Gendo ein, um ihre E-Mails zu lesen. Die Firma war zum Lebensmittelpunkt für sie und Erik geworden – in einem Maße, dass sie immer wieder ein schlechtes Gewissen wegen Emil und Olivia hatte. Gendo war ihr nicht deshalb so wichtig, weil es so viel Geld abwarf und in der Zukunft noch viel mehr einbringen würde, sondern weil sich in dem Unternehmen Katjas gesamte wissenschaftliche Laufbahn und ihre ganze
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