Das Erbe des Greifen
all das, woran man guten Gewissens glauben kann, verraten hat?«, fragte Torwald über den Rand seines Bechers hinweg. Er hält sich nicht lange mit Geplänkel auf, sondern durchbricht die Schlachtlinie des Gegners direkt und geradeaus, dachte Lindor anerkennend. Die blassblauen Augen des älteren Mannes waren ruhig und gelassen, er wartete ab, hatte sein endgültiges Urteil noch nicht gefällt. Eines schien dem Grafen Lindor gewiss. Der Graf von Berendall mochte zwar alt sein, doch war er weder gebrechlich, noch litt er unter Altersschwachsinn. Ihm gegenüber saß ein Mann, der genau überlegte, bevor er handelte. Nur zu gerne hätte er dem alten Grafen gezeigt, wie sehr er ihn verstand, vielleicht sogar für das bewunderte, was er in all den Jahren aus den Greifenlanden gemacht hatte. Doch das war unmöglich, nachdem er hierher gekommen war, um die vollständige Unterwerfung des alten Mannes einzufordern und ihm unmissverständlich klarzumachen, dass etwaiger Widerstand mit voller Härte geahndet werden würde.
Ob der Graf sich unterwerfen oder ob der Kanzler seine Truppen schicken würde, um Berendall zu schleifen, war einerlei, denn der Graf würde so oder so alles verlieren, für das er sein Leben lang eingestanden war.
»Ich diene dem Prinzen«, antwortete Lindor deshalb knapp.
»Also war es der Prinz, der dieses Regiment an meine Mauern befahl?«, fragte Torwald. »Er müsste zum damaligen Zeitpunkt sieben Jahre alt gewesen, nicht wahr? Ein zartes Alter für eine solche Provokation.«
»Der Kanzler hielt es für angebracht, unsere Präsenz hier zu verstärken«, erwiderte Lindor steif.
»Ah, verstärken nennt man das. Täusche ich mich, oder liegt Thyrmantor etwas über dreihundert Meilen nördlich von hier? Hinter dem Steinhauer Gebirge, durch das noch immer kein Pass führt?« Torwald setzte seinen Becher abrupt auf der Tischplatte ab. »Da ist es natürlich verständlich, wenn nicht sogar notwendig, seine Truppen in Berendall anlanden zu lassen! Wie gut, dass wir das nun klären konnten.«
»Der Kanzler wird seine Gründe gehabt haben«, beugte sich Lindor unbehaglich in seinem Stuhl zurück. »Vielleicht offenbart sich Euch sein Plan ja, wenn Ihr diese Nachricht lest.«
Lindor griff unter seinen Brustpanzer und zog eine flache Ledermappe darunter hervor, die mit dem goldenen Wappen von Thyrmantor gesiegelt war. Er reichte sie Torwald, der sie auch entgegennahm, dann aber vor sich auf den Tisch legte.
»Ich darf vermuten, dass mir Euer Kanzler mit diesem Schreiben seinen Schutz anbietet?«, ließ sich Torwald kühl vernehmen.
»Ich kenne den genauen Wortlaut nicht, aber ich denke, dass dies in etwa dem Inhalt der Nachricht entsprechen dürfte.«
»Was, denkt Ihr, wird Euer Kanzler tun, wenn ich dankend ablehne?«
»Fünf Regimenter anlanden und Berendall binnen einer Woche einnehmen«, beschied ihn Lindor hart. »Deshalb solltet Ihr sein Angebot lieber annehmen. Dann werdet Ihr Euer Leben behalten und auf Eure alten Tage hin beobachten können, wie ein Tempel des Darkoth innerhalb Eurer Mauern errichtet wird. Aber dies ist allemal besser, als Widerstand zu leisten. Opfert Eure Prinzipien und rettet dafür Euch und die Greifenlande.«
Der alte Graf lachte laut auf und schüttelte dann den Kopf.
»Ein Diplomat seid Ihr wahrlich nicht, Lindor«, sagte er schließlich, sichtbar erheitert. »Seit zwei Jahren schleichen die Diener Eures Kanzlers nun schon um mich und meine Barone herum. Verlockende Angebote und kostbare Geschenke haben sie uns gemacht, wie diesen Wein hier. Vielleicht habt Ihr ja herausgeschmeckt, dass er aus Eurer Heimat kommt. Ein Gastgeschenk Eures Kanzlers. Es traf zugleich mit der Forderung ein, dass man den Priestern Darkoths nicht im Weg stehen soll, wenn sie einen Ketzer bestrafen wollen. Zwei Jahre schleicht Euer Kanzler also bereits um uns herum. Und jetzt dieses Schreiben? Ich verstehe nicht, warum er seine Regimenter dann nicht schon früher geschickt hat?«
»Diese Frage weiß ich nicht zu beantworten. Ich bin nicht er.«
»Ihr habt nicht die geringste Absicht, irgendwelche Zugeständnisse zu machen, nicht wahr, Lindor?«, stellte der alte Graf fest.
Lindor zuckte die Achseln.
»Wofür? Wozu Zugeständnisse machen, die ich nicht werde halten können? Lord Deren will Euren Tod, und er wird ihn bekommen. Der Kanzler weiß außerdem, dass Ihr ihm nicht lange Widerstand leisten könnt. Also, wozu noch Versteck spielen?«
»Das sind klare Worte. Und ich frage Euch
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