Das Erbe des Greifen
erneut, warum denkt Ihr, dass sie nicht schon lange zuvor gesprochen worden sind?«
»Ich vermute, dass der Kanzler zunächst glaubte, er hätte alle Zeit der Welt, um sich Berendall Untertan zu machen. Schließlich seid Ihr alt und werdet bald sterben.«
»Das ist gewiss, so wahr ich hier sitze«, lachte der alte Graf. »Und Ihr meint, es geht ihm jetzt nicht mehr schnell genug damit? Warum, was ist geschehen?«
»Er teilt mir seine Überlegungen nicht mit, Graf«, antwortete Lindor resigniert. »Vielleicht, weil er sich einem neuen Gegner zuwendet. Vielleicht hat er aber auch nur einfach nicht mehr genug Muße. Deshalb wird er sich mit Gewalt holen, was er haben will. So einfach ist das. Ihr müsst Euch damit abfinden.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. Doch der alte Graf wusste seine Gedanken gut zu verbergen.
»So«, meinte Torwald nach einer Weile. »Muss ich das?« Er sah in seinen Becher und trank einen kleinen Schluck. »Ich denke nicht, dass ich das muss«, stellte er dann fest.
»Vielleicht behaltet Ihr damit sogar Recht«, sagte nun Lindor. »Ihr könnt Euer Schicksal gewiss noch abwenden, indem Ihr Eurer Göttin abschwört und Euch Darkoth unterwerft. Lord Deren will zwar Euren Tod, aber vielleicht lässt er sich ja auf einen Handel ein. Gebt ihm zudem noch ein paar Dutzend Eurer Bürger als Opfergabe für Darkoth, und er wird zufrieden sein. Bürger habt Ihr schließlich genug, während Ihr selbst nur ein Haupt habt.«
»Ein gutes Geschäft«, bemerkte der alte Graf bitter, »sicher ganz nach dem Geschmack Beliors.«
»Ein Geschäft, das der Kanzler an Eurer Stelle ohne zu zögern eingehen würde«, erklärte Graf Lindor mit einem kalten Lächeln. »Er würde sagen, dass es nur vernünftig wäre, zumal sich die Priester ihre Opfer ja so oder so holen werden! Nur werdet Ihr mit ansehen müssen, wie man diese schreiend und winselnd vor den dunklen Altar zerrt.«
»Ich bin alt«, lächelte Graf Torwald mit einem Funkeln in den Augen. »Ich habe schon so vieles gesehen, dass ich manches nicht mehr zu sehen brauche. Außerdem besitze ich etwas, von dem ich mich mein Leben lang habe leiten lassen, und das werde ich auf meine alten Tage auch nicht mehr aufgeben.«
»Meint Ihr Euren Glaube und Eure Prinzipien?«, fragte Lindor spöttisch. »Seid gewiss, dass der Kanzler von solchen Dingen unbelastet ist.«
»Dessen bin ich mir sicher«, gab der alte Graf eisig zurück. »Sagt, Graf Lindor, wisst Ihr eigentlich um die Geschichte Darkoths?«, fuhr er betont gleichgültig fort.
»Nein. Ich weiß nur, dass er ein sehr alter Gott ist.«
»Ihr wisst, dass man in Alt Lytar die Göttin Mistral verehrte?«, redete der alte Graf unbeirrt weiter, und Lindor nickte.
»Ja, das weiß ich.«
»Es gibt eine alte Legende. Nach dieser forderte Darkoth von Mistral die Krone der Schöpfung. Als sie ihm diese nicht geben wollte, versuchte er ihr die Krone mit Gewalt zu entreißen. Er unterlag der Herrin der Welten. Aber einen Gott kann man nicht töten, man kann ihn nur einkerkern. Also zerschlug Mistral den gefallenen Gott in sieben Teile, deren jedes sie unter den größten ihr im Lande geweihten Tempeln einkerkern ließ, sein Haupt und sein Herz aber bannte sie unter ihr größtes Heiligtum. Dort liegen das Herz und das Haupt des dunklen Gottes noch immer, in goldene Ketten geschlagen, gehalten und gebannt durch die Macht des Glaubens an die Herrin der Welten.«
»Warum erzählt Ihr mir diese alte Legende? Verfolgt Ihr damit einen Zweck?«, erkundigte sich Lindor. Er wies auf die lederne Mappe. »Ihr wisst, dass dies der alleinige Grund für mein Kommen ist, und seid dessen versichert, der Kanzler wartet ungeduldig auf eine Antwort.«
»Dann kann er ruhig auch noch ein wenig länger darauf warten. Graf, was meint Ihr, wo befindet sich wohl Mistrals ältestes und größtes Heiligtum?«
»In Alt Lytar, wo sonst«, antwortete Lindor ungehalten. »Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Sagt, gab es früher nicht auch einen Tempel Mistrals in Thyrmantor?«
»Ja. Aber er brannte vor ein paar Jahren ab. Ich erinnere mich daran, galt es doch als böses Omen. Und zu Recht, wie sich zeigte, denn bald darauf erkrankte der König.«
»Ich kenne die Geschichte, Lindor. Es war auch die Zeit, in der Belior ins Land kam und dem König seine Dienste als Gelehrter anbot. Er versprach ihm Heilung. Und mit ihm kamen die dunklen Priester Darkoths. Es waren zuerst nur wenige, nicht
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