Das Erbe des Greifen
an.
»Aber was, wenn diese Schafe gar keine Schafe wären, sondern Wölfe?«
»Ser, ich verstehe nicht …«
»Seit zwei Jahren lagern wir vor dieser Stadt und bedrohen sie. Und was tat der alte Graf in dieser Zeit?«
Der Leutnant schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich glaube, er tat nichts.«
»So?«, fragte Lindor. »Berendall ist eine der am besten befestigten Städte, die ich jemals sah, mit einem eigenen Hafen und einer Handelsflotte, die sich sehen lassen kann. Wir haben es mit gut dreißigtausend Einwohnern und kaum mehr als zweihundert Stadtwachen zu tun. Und mit machthungrigen, aufsässigen Baronen, die untereinander Krieg führen. Zudem haben wir einen alten Grafen vor uns, der es vermochte, diese Lande über sechzig Jahre lang zu regieren und zum Blühen zu bringen … wenn Ihr es nicht besser wüsstet, würdet Ihr dann glauben, dass ein solcher Mann nichts tut?«
»Nein, Ser.«
»So bleibt eine Frage, Heskel: Wisst Ihr es nun besser, oder nicht?«
»Ihr meint, es lässt uns nur in dem Glauben, nichts zu tun?«
»Genau das meine ich«, sagte Lindor. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und rieb seine Schläfen.
»Aber warum?«, warf der junge Leutnant erstaunt ein.
»Weil er auf etwas wartet!«, antwortete der Graf. »Und Ihr habt Eure Befehle, Heskel, führt sie nun aus.«
»Ja, Ser!«, salutierte der Leutnant und zog die Tür hinter sich zu. Der Graf hörte, wie sich seine Schritte entfernten, und atmete einmal tief durch. Er blickte auf seine Hände herab. Es klebte kein Blut an ihnen. Es war nur für ihn sichtbar. Der Graf seufzte, stand auf und füllte sich ein neues Glas mit klarem Korn ein.
In einem hatte der Leutnant Recht, die Priester Darkoths würden wie wilde Hunde wüten. Das Glas in der Hand, trat er ans Fenster und sah hinaus. Dort, in der Ferne, hinter dem schroffen Gebirgskamm, lag Alt Lytar, und wenn der alte Graf Recht hatte, barg der Tempel dort mehr als nur ein Geheimnis.
Langsam setzte er das Glas an und trank einen kleinen Schluck. Kein Priester Darkoths hatte je vermocht, den dortigen Tempel der Mistral zu betreten, und dieser Umstand musste mehr als nur der Verderbnis der alten Stadt, dem Zufall oder irgendwelchen unglücklichen Gegebenheiten geschuldet sein.
Selbst nach der Zerstörung und all den Jahrhunderten, die seitdem vergangen waren, gab es anscheinend etwas oder jemanden, der den Tempel beschützte. Lindors Gedanken rasten nur so dahin.
Dies hier waren die Greifenlande. Untereinander zerstritten, ausgeblutet und verarmt, vom Fluch der Göttin gezeichnet. In wenigen Wochen würden hier fünf Regimenter anlanden, mehr als genug, um das ganze Land mit Gewalt zu überziehen. Zu Hause, in Thyrmantor, waren selbst die Heere anderer stolzer Königreiche nicht dazu in der Lage gewesen, Beliors Macht erfolgreich zu trotzen.
Der Prinz war über sein Alter hinaus weise. Vielleicht, weil er sein Schicksal kannte und wusste, dass er nicht sehr viel älter werden würde. Er hob sein Glas in einem stillen Gruß. Die »eisernen Drei« waren Belior stets ein Dorn im Auge gewesen, und dennoch waren sie die besten Soldaten, die Thyrmantor je besessen hatte.
Von Belior hieß es, dass er unbesiegbar wäre.
Dasselbe hatte man einst auch vom Greifen behauptet.
Einen Moment lang stellte sich Lindor vor, wie er im Garten des Prinzen neben diesem saß und ihm die Legende von Darkoth erzählte. Was würde der Prinz wohl dazu sagen?
Der Graf kippte den Korn und blieb am Fenster stehen. Zwei Wochen noch, höchstens drei, dann würden die fünf Regimenter hier anlanden. Vielleicht sogar mit dem Kanzler selbst.
Langsam drehte Lindor sich um, blickte blind auf seinen Schreibtisch hinab und runzelte die Stirn. Er war nun schon seit einigen Tagen hier. Und noch immer hatte ihn der Kriegsmeister der Kronoks nicht mit seinem Besuch beehrt. Die Kronoks hatten ihr Lager weiter östlich des ihren errichtet, das wusste er, aber bislang hatte er noch keinen einzigen der gefürchteten Echsenkrieger zu Gesicht bekommen. Und das war durchaus ein Anlass zur Besorgnis!
»Jetzt habt Ihr mich zum Zweifeln gebracht!«, beschwerte sich Lamar. »Was hat Lindor vor? Sein Prinz ist bereit, sein eigenes Leben zu geben, auf dass es nicht länger als Druckmittel gegen Lindor und die »eisernen Drei« benutzt werden kann. Da muss Graf Lindor doch irgendeinen Plan verfolgen … und dennoch beschreibt Ihr, dass er mit sich selbst ringt und von schlechtem Gewissen geplagt wird …«
»Selbst
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