Das Erbe des Greifen
wenn er jede Nacht von Dämonen heimgesucht wurde, war das immer noch zu wenig«, stieß der alte Mann hervor. »Er war Soldat und im Krieg, das mag manches rechtfertigen. Aber eben nicht alles! Zumindest nicht, dass man eine wehrlose Frau vor den Augen ihrer Tochter erschlägt!« Lamar sah auf die zu Fäusten gebauten Hände des Geschichtenerzählers hinab, der seinen Blick bemerkte und sich wieder etwas zu entspannen versuchte. »Jeder liebte die Sera Tylane«, fügte er leiser hinzu. »In meinen Augen kann nichts von dem, was Lindor danach tat, diesen Mord jemals aufwiegen.«
»Es war, wie Ihr sagtet, Krieg«, meinte der Gesandte, »und im Krieg geschehen oftmals schreckliche Dinge.«
»Dennoch bleibt eine jede üble Tat in ihren Folgen bestehen … manchmal sogar über die Jahrhunderte hinweg«, stellte der alte Mann fest. »Nur wenige werden gesühnt. Natürlich habt Ihr Recht, und das Schicksal der Sera Tylane war kein seltenes in dieser Zeit, wenn man es als Unbeteiligter betrachtet. Aber wenn man das Opfer näher kannte, sieht das anders aus und lässt sich kaum ertragen. Doch all dieses Morden hatte seinen Anfang in Lytar genommen, wo damals ein anderer als Lindor wütete. Wie sehr er wütete, und was genau die Göttin so erzürnte, erfuhren Elyra und Astrak ungefähr zur gleichen Zeit, in dem der Graf den Befehl gab, seine Mordbuben in die Stadt zu schicken …«
Das Geheimnis des Tempels
»Das sind aber große Türen«, meinte Astrak beeindruckt und musterte die mächtigen bronzenen Türflügel. Sand, Staub und Erde hatten auf der obersten Stufe Verwehungen gebildet, Gräser wuchsen darauf, und auf der rechten Seite blockierte ein niedriger Busch die Tür. Astrak sah zu Lenise hinüber, die mit ihrem Wolf still neben ihnen stand.
»Gehen die nach innen oder nach außen auf?«
»Nach außen«, erwiderte Lenise lächelnd. »Ich glaube, alle Tempeltüren öffnen sich nach außen. Diese hier …«, sie fuhr mit ihrer Hand fast liebevoll über das verwitterte Metall, »schlossen sich von allein, als die letzte Priesterin der Mistral erschlagen wurde. Der Legende nach, so wie mein Großvater sie mir erzählte, wurde dadurch den Mördern die Flucht verwehrt.«
»Gibt es einen anderen Eingang?«, fragte Astrak. »Dort oben sind Fenster, warum klettern wir nicht da hindurch?«
»Es sind massive Platten aus armdickem Glas, klar wie Luft und fest wie Stein«, antwortete Lenise. »Ich war schon auf dem Dach und habe nach einer Möglichkeit gesucht, in den Tempel zu gelangen. Es gibt keine. Diese Türen hier sind der einzige Zugang … und nur eine Dienerin der Mistral kann sie öffnen.«
»Aber wie?«, fragte Elyra leise. Lenise zuckte die Schultern.
»Das vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, dass Ihr sie am Ende öffnen werdet.«
Andächtig legte Elyra eine Hand auf das Metall.
»Es ist warm von der Sonne«, stellte sie überrascht fest. Sie sah sich im Tempelgarten um und musterte die von dichtem Grün überwucherten Flächen. »Die Verderbnis hat diesen Garten verschont«, murmelte sie dann. »Die Pflanzen sehen gesund aus.«
»Es gibt einen Teich im hinteren Teil des Gartens«, erklärte Lenise. »Er wird von einer Quelle gespeist, der einzigen in ganz Lytar, die klares, sauberes Wasser liefert. Ohne sie hätte niemand von uns überlebt.«
Elyra legte nun beide Hände auf das verwitterte Metall, doch nichts geschah.
»Diese Quelle werde ich mir später ansehen«, sagte sie. Die junge Priesterin trat zurück und musterte die schweren Türen. »Wie gehen sie nur auf? Es gibt nirgendwo einen Griff. Ihr sagtet, sie schlossen sich von allein?«
»So ist es überliefert. Und vor der Katastrophe sollen sie jahrhundertelang offen gestanden haben.«
Astrak schüttelte den Kopf. »Es muss einen anderen Weg in den Tempel geben. Irgendeinen geheimen Gang, irgendwo.«
»Als Kind habe ich diesen Garten erforscht, wie Hunderte andere vor mir. Alle haben wir nach einem Zugang gesucht, denn wir wollten im Tempel beten«, erklärte Lenise und schmunzelte. »Wenn Ihr glaubt, mehr Erfolg zu haben als wir, Ser Astrak, so macht Euch gerne auf die Suche.«
Astrak schüttelte den Kopf. »Entschuldigt, ich wollte nicht überheblich klingen.« Er betrachtete die schweren Türen und runzelte die Stirn. »Allerdings haben wir Erfahrung darin, verschlossene Türen zu öffnen.«
»Ich glaube nicht, dass wir diese hier ebenfalls mit unserem Schwert aufschließen können«, wandte Elyra ein. »Aber vielleicht mit
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