Das Erbe des Greifen
Zusammen musterten sie die Stadt, die vor ihnen lag.
»Ich habe etwas anderes erwartet«, sagte Meliande dann. »Die Tore der Stadt stehen offen, aber der Wall ist besetzt.« Über Berendall stiegen Rauchwolken auf, vielleicht rührten sie von kleinen Bränden her, vielleicht auch nur vom Feuer in den Kaminen. Vor der Stadt scharten sich Bauern mit Karren und Gespannen voller Waren. Soweit man es aus der Entfernung erkennen konnte, fertigten die Wachen am Tor den Verkehr zügig ab. Was auch immer den Alarm ausgelöst hatte, es schien vorbei.
»Seht nur dort«, rief Hendriks und wies mit dem Arm zur Stadt. »Neben dem Tor, rechts von dem Wachhaus, laden sie gerade Leichen auf einen Karren auf. Etwas ist hier geschehen.«
»Hat ganz den Anschein«, sagte Meliande und ließ ihr Pferd in den Schritt fallen. »Allerdings werden nicht herausfinden, was, wenn wir hier herumstehen.«
»Vielleicht doch«, meinte Hugor plötzlich und klatschte sich lachend auf die Schenkel. »Sind wir denn alle blind? Werft mal einen Blick auf das Banner über dem Tor … rechts weht das des Grafen von Berendall, aber das Linke ist neu … oder vielmehr ziemlich alt.« Er sah amüsiert zur Hüterin hinüber, die verwundert auf das Banner starrte. »Es scheint, als hätte jemand schon die Stadt für Euch gewonnen.«
Und tatsächlich wehte dort oben das Banner des Greifen, das Schwert gesenkt und die Schlange aufgespießt.
Das Erbe des Greifen
»Das war nun offenbar die Schlacht um Berendall«, lachte Lamar. »Hat jemand von Euch daran geglaubt, dass es so einfach werden würde?«
»Nein«, antwortete der Geschichtenerzähler und stopfte sich nachdenklich die Pfeife. »Wir alle haben eine große Schlacht erwartet … aber ganz so einfach war es ja auch nicht. Ohne das Eingreifen der Priesterin Leonora hätten wir den Kampf nicht für uns entscheiden können. Außerdem war es für unsere Freunde eine ziemliche Ernüchterung. Niemals zuvor waren Garret, Tarlon und auch Vanessa dem Tode näher gewesen. Zudem wusste jeder, dass die eigentliche Schlacht noch bevorstand. Es gab keinen Zweifel daran, dass der Kanzler noch immer nach der Krone gierte. Und was die betrifft, hatte Pulver in der Nacht zuvor noch eine bedeutsame Entdeckung gemacht …«
Während Pulver und Astrak auf Elyra und Barius warteten, halfen sie den anderen dabei, den Tempel zu säubern. In einer großen Kiste fand Astrak unbenutzte Kerzen, und so war der Tempel hell erleuchtet, als die Nacht über Alt Lytar hereinbrach. Immer wieder stießen sie auf Spuren der vergangenen Gewalttaten. Auch nach all den Jahrhunderten war genau zu erkennen, wo Blut geflossen war. Pulver machte sich dann jedes Mal mit beinahe grimmiger Inbrunst daran, die eingetrockneten Flecken vom Boden des Tempels abzuscheuern. Irgendwann, als er nach frischem Wasser verlangte, war es jemand Unbekanntes mit geschuppten Händen, der einen schweren Eimer neben Pulver stellte.
Der Alchimist sah überrascht auf. Der Mann, der vor ihm stand, war einfach gekleidet, groß gewachsen und schlank, nichts an ihm war absonderlich, bis auf die geschuppte Haut, die auch in ihrer Musterung der einer Schlange glich.
»Mein Name ist Nasreth«, sagte der Mann. »Ich bin Lenises Bruder, und ich komme, um Euch einzuladen, unseren Anführer zu treffen.«
»Sobald hier kein Blut mehr zu sehen ist, werde ich mit Euch kommen«, antwortete Pulver verbittert. Lenises Bruder sah auf eine rostbraun befleckte Stoffpuppe herab, die der Alchimist auf eine nahe Kiste gelegt hatte. »Dann helfe ich Euch«, sagte Nasreth. Er kniete neben Pulver nieder, griff sich eine der Handbürsten und nahm einen anderen Blutfleck in Angriff. Er warf einen Blick zu Astrak hinüber, der zusammen mit Lenise die Kerzen entzündete.
»Sie wird ihn heiraten. Sie bekommen drei Kinder, eines davon ein Mädchen mit blauschwarzen Haaren und dunklen Augen, wie die Mutter Eures Sohnes sie besaß. Das hat sie mir vor vier Jahren mitgeteilt. Sie wusste weder seinen Namen noch die Umstände, unter denen sie zusammentreffen würden, doch sie hat ihn mir genau so beschrieben, wie ich ihn dort sehe. Bereitet Euch das Schwierigkeiten?«
»Wie werden sie das Mädchen nennen?«
»Senise.«
»Dann sehe ich keine Probleme«, meinte Pulver und schrubbte härter. Seines Wissens hatte bislang niemand hier erwähnt, wie Astraks Mutter geheißen und wie sie ausgesehen hatte. Er wischte sich die Augen und fluchte leise, als das verdammte Seifenwasser in ihnen zu
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