Das Erbe des Greifen
versetzt hatte, und sie hätte dich auch sicherlich wieder aus ihm erweckt, wenn …«
»Wenn sie nicht von demselben erschlagen worden wäre, der mir auch das Augenlicht geraubt hat! Meliande … ich sah unsere Kinder! Sie wussten nicht mehr, wer ich bin, und unsere Tochter, sie rannte davon, als sie das Ungeheuer erblickte, zu dem ich geworden bin.«
»Und du?«, wollte sie wissen. »Bist du bei ihnen geblieben?«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich vermochte es nicht«, flüsterte er mit erstickter Stimme. »Ich konnte ihren Abscheu nicht ertragen. Ich floh in den Wald … und dort verlor ich mich. Es dauerte lange, bis ich wieder zu mir fand … und als es schließlich so weit war, stand ich am Grab der Kinder unserer Kinder.« Er griff sie hart am Oberarm. »Doch, sage mir, warum bist du gegangen?«
»Weil es meine Pflicht war«, antwortete sie schlicht. »Ich ging für unsere Kinder und für die Kinder unserer Kinder.«
»Pflicht? Für unsere Kinder? Sage mir, Meliande, wo sind unsere Kinder heute? Wo liegen sie begraben?«
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.
»Wir beide, du und ich, haben sie nur knapp verpasst«, teilte sie ihm dann gepresst mit. »Die Letzte aus unserer Linie war die Heilerin des Dorfes, Sera Tyiane, Elyras Ziehmutter. Graf Lindor erschlug sie, nur wenige Tage, bevor die Kinder dich fanden.«
»Hund sah sie einmal, als sie im Wald Kräuter sammeln ging«, erinnerte sich Ares leise. »Wie konnte ich nur … ich konnte mich ihr nicht zeigen. Ich wusste auch nicht, wer sie war!« Er lehnte sich schwer gegen die Turmwand. »So ist also nichts von uns geblieben«, flüsterte er.
Meliande lächelte und strich ihm sachte über das Haar.
»Das ist nicht ganz richtig, Ares. Die Sera Tyiane war zwar die Letzte unserer Nachkommen in direkter Linie. Aber … ich unterhielt mich mit Pulver. Ich versuchte ihn ein wenig über die Sera Tyiane auszuhorchen. Ich glaube, er ahnte, worauf ich hinaus wollte. Tyiane war die Heilerin des Dorfes, und sie wachte über die Blutlinien. Sie achtete darauf, dass sich das Blut der Lytarianer nicht falsch vermischte. Pulver sagte mir nun, dass dies allerdings immer schwerer geworden wäre, denn über die Jahrhunderte hinweg wäre im Tal fast schon jeder mit jedem verwandt gewesen. Ares, sie sind alle unsere Kinder. Jeder Einzelne von ihnen.«
»Aber …«
Sanft legte sie einen Finger auf den gemalten Mund der Maske.
»Es ist wahr, denn ich habe es zudem in einer Vision gesehen. Es sind unsere Kinder, Ares. Für sie ging ich in die Dunkelheit. Für sie ist kein Opfer zu viel. Und sie sind frei von dem üblen Blut Lytars, Ares, hörst du? Sie sind frei von dem Fluch. Allein schon deswegen ist der Preis, den wir gezahlt haben, nicht zu hoch gewesen!«
»Niemand ist frei, solange Belior noch lebt«, antwortete Ariel mit zu Fäusten geballten Händen. »Er hat alles überschattet, was mir lieb und wichtig war, und alles zerstört, was gut war an unserer Welt und unserer Liebe. Solange er lebt, werden wir nie Frieden finden!«
»Er ist schon lange tot, Ares«, beschwichtige sie ihn mit leiser Stimme. »Seine Knochen verrotten irgendwo in der Erde. Mittlerweile ist nichts mehr von ihm geblieben.«
»Und wie erklärst du dir dann, dass sein verfluchter Name die Welt schon wieder in Angst und Schrecken versetzt?«
»Vielleicht ist es ein entfernter Nachkomme von ihm«, vermutete sie.
»Das hoffst du nur«, widersprach Ariel aufgebracht. »Und wenn er doch derjenige ist, der nun nach der Krone greift? Auf jeden Fall muss auch dieser Belior vom Blut Lytars sein, sonst könnte er nicht auf die Macht der Krone hoffen.«
»Belior ist tot, Ares. Niemand entgeht dem Zorn der Göttin«, sagte Meliande bestimmt.
Ariel seufzte. »Vielleicht hast du Recht und es ist wirklich einer seiner Nachkommen. Der Bastard hat sich diesbezüglich ja wenig zurückgehalten. Doch in meinen Träumen ist er es selbst, der uns belauert, und zu Ende bringen will, was er begonnen hat.« Wieder ballte Ariel seine Hände zu Fäusten. »Du weißt, was das Letzte war, das ich sah, bevor er mich blendete?«
»Ja …«, nickte Meliande. »Du hast es mir gesagt, als ich dich fand. Ich kam nicht mehr rechtzeitig, aber ich vermochte wenigstens das Schlimmste zu verhindern.«
»Das sieht sie allerdings anders«, erklärte er ihr. »Du hast sie gebeten, sich um unsere Kinder zu kümmern, und sie hat ihr Versprechen gehalten. Wie sie ihre Versprechen immer gehalten hat. Aber sie hat
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