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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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der Polizei überein; bei Jem sei das nicht der Fall. Und er könne nicht darauf vertrauen, daß Jem seiner Sache nicht noch weiter schaden würde, wenn man ihn in den Zeugenstand riefe.
    Ihm sei aufgefallen, sagte Mr. Rogers behutsam, daß Jem die Tendenz habe, unter Druck panisch oder unbeherrscht zu reagieren. Und Mr. Notley würde selbstverständlich den größtmöglichen Druck ausüben. Wenn Jem sich zu diesem Zeitpunkt, da man sich noch mitten im Verfahren befinde, der schweren Körperverletzung schuldig bekenne, sagte er, so werde die Anklage das seiner Meinung nach akzeptieren. Wohingegen die Anklage sich nach einem für Jem ungünstig verlaufenen Verhör als Zeuge wahrscheinlich sicher fühlen würde, eine Verurteilung im Sinn der ursprünglichen Anklage zu erreichen, und daher auf eine Änderung der Einlassung nicht eingehen würde. Und – Mr. Rogers tätschelte ihr beruhigend den Arm – wenn die Anklage Jems Antrag annehme, werde der Richter sicherlich eine Strafe von höchstens zwei Jahren Gefängnis verhängen.
    »Zwei Jahre?« wiederholte sie und hörte selbst, wie ihre Stimme schrill wurde.
    »Miss Cole«, sagte Mr. Rogers, »die Höchststrafe für vorsätzliche schwere Körperverletzung ist lebenslänglich.«
    Als er hinausging, begann sie trotz der Hitze heftig zu frösteln.
    Nach den endlosen und zermürbenden Prozeduren der vorangegangenen Monate kam das Ende so schnell, daß es Romy den Atem raubte. Das Gericht trat wieder zusammen, und der Anklage wurde ein weiterer Punkt – der der schweren Körperverletzung – hinzugefügt. Der neue Anklagepunkt wurde verlesen. Jem bekannte sich schuldig, und Romy schloß angstvoll die Augen. Während Mr. Stokes dem Richter eine Liste mildernder Umstände unterbreitete – Jems Jugend, die Tatsache, daß er keine Vorstrafen hatte –, versuchte sie, sich einen Rest Hoffnung zu bewahren.
    Aber der Vortrag des Richters erstickte das letzte Fünkchen Optimismus. Seine Stimme schallte durch den Saal: … gemein und unbeherrscht … Jugend keine Entschuldigung für grundlose Gewalt … Und dann sagte der Richter mit einem letzten verächtlichen Blick: »Der Angeklagte hat eine Haftstrafe von zwei Jahren verdient«, und Jem wurde in seine Zelle zurückgebracht.
    Sie durfte kurz mit ihm sprechen. »Es tut mir leid«, sagte sie immer wieder und schlang die Arme um ihn. »Es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht zur Polizei schicken sollen. Ich hätte nie gedacht, daß es so kommen würde.«
    Jem schüttelte den Kopf und lächelte so, wie er immer lächelte. »Es war nicht deine Schuld, Romy«, sagte er. »Und zwei Jahre sind doch gar nicht so lang. Nicht länger als der Militärdienst.«
    Dann war sie draußen auf der Straße und rannte stolpernd an Geschäften, Cafés und Bürogebäuden vorbei. Sie ging und ging, ohne Richtung, ohne Ziel. Hin und wieder mußte sie anhalten und sich auf eine Mauer oder eine Bank setzen, bis die Übelkeit und das Schwindelgefühl nachließen. Obwohl es gnadenlos heiß war, fror sie in ihrer dünnen Baumwolljacke. Sie fragte sich, ob sie krank war, schloß ihre Arme fest um ihren Oberkörper und versuchte, sich zu wärmen und zu trösten. Dann dachte sie plötzlich: Caleb, und sprang auf und rannte beinahe zum Waterloo-Bahnhof.
    Im Zug lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schloß die Augen. Dunkle Schemen, rot, braun und schwarz, tanzten hinter ihren Lidern. Schmerzen pochten in ihren Schläfen im Takt mit dem Rattern der Räder. Ihr Zorn blieb und wuchs. Mit einer furchtbaren Unerbittlichkeit hatte das Gericht die Auslöschung eines Menschen vollendet, der von Kindheit an zart und zerbrechlich gewesen war. Es waren keine hochmütigen Anwälte und verlogenen Zeugen nötig gewesen, um Jem zu zerstören; er war bestens befähigt, die Zerstörung selbst zu bewerkstelligen. Der Jem, den die Anklage gezeichnet hatte, war ein Fremder gewesen, nicht ihr Jem. Dieser Fremde war unzuverlässig und ohne Ausbildung, imstande, bei der geringsten Provokation zuzuschlagen. Sie hatte keine Chance bekommen, den Geschworenen die Umstände zu schildern, die Jem zu dem gemacht hatten, der er war. Sie hatte keine Chance bekommen, ihnen den anderen Jem zu zeigen, ihren Jem, der so sanft und liebevoll sein konnte. Ihr Jem kannte keine Arroganz und keinen Haß. Gehässigkeit und Unfreundlichkeit verwirrten ihn; denen, die berechnender waren als er, hatte er nichts entgegenzusetzen.
    Jedesmal, wenn der Zug langsamer fuhr, öffnete sie kurz die

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