Das Erbe des Vaters
dich nach England zurückbrachte. Natürlich waren sie von der bevorstehenden Trennung überschattet, aber vielleicht wußte ich die Zeit mit dir gerade darum um so mehr zu schätzen. Als ich dich bei Ernest und Marigold zurückließ und nach Indien zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, einen Teil von mir selbst zurückgelassen zu haben. Das ist ein Klischee, aber es ist wahr. Ich war dreiundvierzig Jahre alt und habe mich nie wieder jung gefühlt.«
Der Prozeß fand im Old Bailey unweit der St.-Paul’s-Kathedrale statt. Romy empfand den massigen Bau als erdrückend. Im Verlauf der Stunden flogen ihre Gedanken immer wieder zu dem Tag zurück, den sie und Caleb miteinander verbracht hatten. Die beglückenden Erinnerungen paßten in ihrer Beschwingtheit nicht zu den geheimnisvollen und gewichtigen Ritualen des Gerichts. Alles verwirrte Romy, die Vorschriften, die Verzögerungen, die Formelhaftigkeit des Verfahrens. Die Anwälte in ihren Perücken und langen Roben schüchterten sie entweder ein oder machten sie wütend mit ihrer messerscharf akzentuierten Sprache und ihrem kalten Spott.
Jem saß mit gesenktem Kopf da, während der Gerichtsbeamte die Anklageschrift verlas. Dann wurden die Geschworenen vereidigt, und der Vertreter der Anklage, Mr. Notley, hielt sein Eröffnungsplädoyer. Mr. Notley war groß, dünn und dunkel. Er trug das schwarze Haar, das an den Schläfen mit Grau gesprenkelt war, militärisch kurz und hatte ein schmales Oberlippenbärtchen, in dem ebenfalls etwas Grau zu sehen war. Seine Erscheinung drückte Verfall aus, und Romy dachte, wenn sie im Korridor mit ihm zusammenstieße, würde wahrscheinlich der Staub auf sie herabrieseln.
Die Monate im Gefängnis hatten bei Jem ihre Spuren hinterlassen. Er hatte Gewicht verloren, seine Haut war fahl, und er konnte keine Minute stillsitzen. Entweder kaute er auf den Fingernägeln, oder er drehte nervös an den Knöpfen seiner Jacke. Die Reaktion, die sein Gesicht spiegelte, als Mr. Notley die Indizien gegen ihn vorlegte und die Zeugen benannte, war Romy vertraut. Sie hatte diese Mischung aus Wut, Furcht und Verletztheit schon früher gesehen: wenn Jem wieder einmal gekündigt worden war oder wenn Dennis ihn geschlagen hatte.
Ray Babbs war der erste Zeuge. In Anzug und Krawatte trat er in den Zeugenstand, wo er so gelassen und besonnen wirkte wie beim Überstellungsverfahren. Er sagte unter Eid aus, daß Jem den Streit im Pub angefangen und ihm später in einer dunklen Gasse aufgelauert und ihn fast zu Tode geprügelt habe. Er selbst sei völlig überrascht und absolut wehrlos gewesen. Weiter erklärte er, er und Liz seien schon seit ihrer Kindheit unzertrennlich gewesen. Zum erstenmal habe er ihr einen Heiratsantrag gemacht, als er sechzehn und sie dreizehn gewesen sei. Zwei Jahre später hätten sie sich tatsächlich verlobt. Er liebe sie immer noch und würde sie auch immer lieben. Er sei überzeugt, daß Liz ihn auch liebe. Weshalb sonst hätte sie ihn besucht, als er im Krankenhaus gelegen habe? Weshalb sonst hätte sie nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus so häufig bei ihm zu Hause vorbeikommen sollen? Sie habe gesagt, sie würde ihn auf der Stelle heiraten, wenn sie nicht solche Angst vor Jem hätte. Vor Jems Jähzorn und seinen Wutausbrüchen.
Jem schlug mit der Faust auf die Umrandung der Anklagebank und sprang auf. »Du lügst doch!« schrie er. »Du bist ein hinterhältiger Lügner. Nie im Leben hat Liz das gesagt.«
Das Gericht rief die Anwesenden zur Ordnung und erteilte Jem eine Verwarnung. Ray Babbs schwankte ein wenig und mußte sich festhalten. Der Richter fragte ihn, ob er eine Pause wünsche, aber Ray schüttelte den Kopf. Und obwohl Mr. Stokes nichts unversucht ließ, um Ray Babbs’ Aussage zu erschüttern, hielt dieser an seiner Version der Ereignisse fest. Am Ende des Kreuzverhörs, nachdem Mr. Notley bekundet hatte, daß er keine weiteren Fragen an den Zeugen hatte, fragte der Richter teilnahmsvoll: »Haben Sie sich von Ihren schlimmen Verletzungen auch wirklich ganz wieder erholt, Mr. Babbs?«, und Ray Babbs lächelte tapfer und dankte ihm für seine Anteilnahme.
Im Lauf des Nachmittags wurde eine Reihe weiterer Zeugen aufgerufen. Mr. Stokes bedrängte den Wirt des Prince of Wales beim Kreuzverhör so hart, daß dieser einräumte, am fraglichen Abend sei ungewöhnlich viel Betrieb in dem Gasthaus gewesen – irgend jemand hatte seinen Abschied vom Junggesellenleben gefeiert, und am Morgen hatte die
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