Das Erbe des Vaters
liebsten den nächsten Stein in der Auffahrt aufgehoben und eines der blitzenden Fenster eingeworfen oder sich einen Stock gegriffen und sämtlichen Blumen in der gepflegten Rabatte die Köpfe abgeschlagen. Von ihrem Zorn überwältigt, schloß sie die Augen und nahm zum erstenmal den Rosenduft wahr.
Sie ging ein paar Schritte weiter die Auffahrt entlang und hörte das metallische Schnappen einer Gartenschere. Links von ihr war hinter der roten Backsteinmauer ein Garten. Romy warf einen Blick hinter das offenstehende Tor und sah Hunderte von Rosen, die sich an Mauern und Spalieren in die Höhe rankten, deren große, duftige Blüten sich über Torbögen und Obelisken ergossen. Blütenblätter schwebten zu Boden, creme, gelb und blutrot auf smaragdgrünem Rasen. Ihr schwerer, süßer Duft rief die Übelkeit wieder hervor.
In einer Ecke des Gartens stand eine Frau, die mit der Gartenschere Blüten und Blätter abschnitt. Sie hatte blondes Haar und trug zum Tweedrock eine cremefarbene Seidenbluse. Um ihren Hals lag eine Perlenschnur. Wie heiter und gelassen sie aussah, als könnte nichts sie berühren. Romy dachte an Martha in ihren billigen Kunstfaserkleidern und sah das durch permanente Sorgen vorzeitig gealterte Gesicht vor sich. Sie dachte daran, daß Martha jeden Moment von der Inhaftierung ihres ältesten Sohnes erfahren würde. Und wieder bemächtigte sich ihrer ein schrecklicher Drang zu zerstören.
Vielleicht hatte sie irgendein Geräusch gemacht; jedenfalls drehte die Frau sich nach ihr um. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« rief sie. »Haben Sie sich verlaufen?« Sie kam durch den Garten auf Romy zu.
»Sind Sie Mrs. Daubeny?«
»Ich bin Evelyn Daubeny, ja.«
»Die Frau von Osborne Daubeny?« Sie mußte ganz sicher sein.
»Ja.« Mrs. Daubeny sah sie verwundert an. »Er ist im Moment nicht zu Hause. Kann ich ihm vielleicht etwas ausrichten?«
Osborne Daubeny hatte Middlemere seiner Geliebten gegeben und damit den Tod Sam Coles, ihres Vaters, und die Vernichtung ihrer Familie verschuldet. Wäre Osborne Daubeny nicht gewesen, so wäre ihr Vater heute noch am Leben, und Jems Leben wäre nicht so aus der Bahn geraten.
»Ja«, sagte sie. »Ja, Sie können ihm etwas ausrichten.« Ihre Stimme war leise und schwankte. »Fragen Sie ihn, wie er es über sich gebracht hat, uns unser Haus wegzunehmen. Und ob er manchmal daran denkt.« Durch Nebel wütender Rachsucht gesehen, schien Evelyn Daubeny zu flimmern wie eine Luftspiegelung. »Leute wie Sie haben so viel«, flüsterte sie, »und trotzdem wollen Sie immer noch mehr haben.«
Evelyn Daubeny antwortete mit einer bestürzten Geste des Unverständnisses. »Ich glaube, hier liegt ein Mißverständnis vor … Sie sind hier wahrscheinlich falsch …«
Romy schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich bin hier nicht falsch.«
»Wer sind Sie? Wie heißen Sie?«
»Mein Name ist Romy Cole.« Bei Evelyn Daubeneys verwirrter Miene hätte sie am liebsten gelacht. »Sie kennen mich offensichtlich nicht. Warum sollten Sie auch? Ihr Mann hat ja nur mich und meine Familie auf die Straße gesetzt, damit er unser Haus seiner Geliebten geben konnte. Er hat ja nur unsere Familie kaputtgemacht.« Sie drückte die Handballen gegen ihr Gesicht.
»Ich verstehe nicht«, sagte Evelyn Daubeny. »Ein Haus? Welches Haus?«
»Middlemere natürlich«, sagte Romy mit Verachtung. »Ich bin Romy Cole, und Middlemere war mein Zuhause.«
Einen Moment blieb es still. Dann sagte Mrs. Daubeny: »Geliebte …?«
12
S IE SAH DER JUNGEN F RAU NACH , wie sie davonging. Als sie außer Sicht war, blickte sie zu ihren Händen hinunter, in denen sie noch immer die Gartenschere hielt. Sie hob den Korb mit den Rosen auf, holte ihre Gartenhandschuhe und ging ins Haus. In der Spülküche füllte sie die Vasen mit Wasser und gab die Rosen hinein. Aber die Stiele wollten nicht so bleiben, wie sie sie arrangierte, und sie merkte plötzlich, daß ihr übel war und sie heftig zitterte. Schock, vermutete sie. Bald, sagte sie sich, bald würde Osborne nach Hause kommen, und sie würde ihm von der jungen Frau erzählen, und er würde in dieser für ihn typischen desinteressierten Art sagen: Wer? Romy Cole? Nie gehört. Dann würde er in seinem Arbeitszimmer verschwinden, um sich die neuesten Baupläne vorzunehmen.
Evelyn ließ die Rosen Rosen sein und setzte sich auf einen Hocker. Die Frau mußte gelogen haben. Doch bei genauem Nachdenken wollte ihr scheinen, daß sie eine schwache Erinnerung an
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