Das Erbe des Vaters
Augen, um zu sehen, an welchem Bahnhof sie waren. Sie wußte nicht mehr, wie man zum Haus der Rolands kam, darum blieb sie bis Hungerford im Zug sitzen. Von da aus würde sie nach Middlemere fahren und dort auf Caleb warten.
In Hungerford trat sie aus dem Schatten des Bahnhofsgebäudes in einen sonnengleißenden Spätnachmittag hinaus. Das Laub der Bäume und die Blumen in den Vorgärten verharrten still und reglos in der heißen Luft. Ihr war, als müßte sie gegen eine unsichtbare Kraft ankämpfen, und den anderen Passagieren – Frauen mit Einkaufstüten und kleinen Kindern an der Hand, Männer in Nadelstreifenanzügen – schien es ähnlich zu ergehen. Alle schleppten sie sich mühsam die staubige Straße entlang.
Als sie einen Bus sah, hielt sie ihn an und setzte sich aufs Oberdeck. Die Straße verengte sich, als der Bus schwankend und ratternd aus der Stadt hinausfuhr. Es roch nach heißem Gummi, Dieselöl und kaltem Zigarettenrauch. Wieder verspürte sie einen Anflug von Übelkeit und drückte ihre Stirn an das kühle Glas des Fensters. Die Räder des Busses streiften die niedrigen Hecken der schmalen Landstraße, und die Zweige der Bäume schlugen gegen die Fenster des Oberdecks. Romy, die ganz vorn im Bus saß, sah vor sich das weite Land liegen, Felder, Wälder, Hecken und Hügel. Sie erkannte nichts, weder die schmalen Straßen noch die reetgedeckten kleinen Häuser oder verschlafenen kleinen Dörfer. Es gab keine vertrauten Bezugspunkte; sie hätte in einem unbekannten Land auf Reisen sein können.
Der Bus rumpelte schwankend und holpernd einen langen Hang hinunter, und sie spürte, wie ihr Magen zu rebellieren begann. Sie erinnerte sich, daß man den Blick geradeaus in die Ferne richten sollte, wenn einem im Auto übel wurde, und sah starr zum vorderen Fenster hinaus. Inmitten grüner und gelber Felder erblickte sie ein Haus und einen Park, der es umgab. Blumenbeete, Obstpflanzungen, Bäume, unter denen sich Fußwege schlängelten, reichten bis zu den Hügeln. Ein kleiner See glitzerte kühl und blaßblau.
Sie hörte die Stimme ihrer Mutter. Ein Teich im Park. Stell dir das mal vor, ein Park mit einem Teich . In einem Schwall schoß die Übelkeit in ihr hoch. Sie drückte die Hand auf den Mund, rannte die Treppe hinunter und zog an der Klingelschnur, um den Fahrer zum Anhalten zu veranlassen. Sie hörte ihn schimpfen, hier sei keine Haltestelle, und sah ihn wütend an. »Wenn Sie mich nicht rauslassen«, sagte sie laut, »übergebe ich mich eben in Ihrem Bus.«
Der Bus hielt quietschend an, und sie sprang hinaus. Wald umgab sie, im Gras an den Straßenrändern blühten Butterblumen und Wiesenkerbel. Während der Bus davonzuckelte und hinter einer Biegung verschwand, ging sie in die Knie und schloß einen Moment die Augen. Dann holte sie mehrmals tief Atem. Sie wußte, daß sie Swanton Lacy gefunden hatte, das Anwesen der Familie Daubeny.
Die Übelkeit ließ nach. Sie ging los, doch ihre Glieder waren so schwer und träge wie in einem Alptraum. Die Bäume begannen sich zu lichten. Sie kam zu einer langen Mauer aus altem rotem Backstein, auf dem die Flechten golden leuchteten. Am Ende der Mauer war ein schmiedeeisernes Tor, das offenstand. Romy blieb stehen und sah die Auffahrt hinauf. Der erste Anblick von Swanton Lacy war atemberaubend. Türmchen und Altane sprangen aus dem Dach des Hauses hervor, und im Glas der vielen Fenster – Erkerfenster, Lanzettfenster, verziert mit Rosetten und Pilastern – brach sich funkelnd das Sonnenlicht. Vor dem Haus war ein gekiester Vorplatz, auf beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt, die lange Schatten auf den Rasen warfen. Eine Blumenrabatte zog sich die ganze Auffahrt entlang. Bienen summten in den blauen, weißen und gelben Blüten.
Während sie schaute, verwandelte sich ehrfürchtige Bewunderung in Zorn. Die Kate am Hill View 5 hätte ein dutzendmal in diesen Prachtbau hineingepaßt. Alles, was sie sah – dieses großartige Gebäude, dieser riesige Park –, sprach von unerschütterlichem Selbstvertrauen, von Dauerhaftigkeit und Kontinuität. Die Daubenys hatten niemals erfahren müssen, was es hieß, kein Zuhause zu haben; sie hatten niemals die Demütigungen der Armut erfahren. Sie verfügten nicht nur über Wohlstand, sie verfügten über die Macht und die Autorität, die Geld und Grundbesitz verleihen.
Vor vierzehn Jahren hatte Osborne Daubeny diese Macht dazu gebraucht, die Familie Cole zu vernichten. Als Romy jetzt daran dachte, hätte sie am
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