Das Erbe des Vaters
Schuhcremefabrik gegenüber für immer dichtgemacht, es seien deshalb viele der Angestellten in der Kneipe gewesen, um ihren Kummer zu ertränken. Aber es gelang Mr. Stokes nicht, den Wirt von seiner Aussage abzubringen, daß Jem am fraglichen Abend erst nach Ray Babbs ins Pub gekommen sei und daß er auf der Suche nach Ray gewesen sei. Danach wurden mehrere Leute gehört, die an dem Abend im Prince of Wales gewesen waren. Romys Stimmung hellte sich auf, als ein junger Mann, von Mr. Stokes befragt, bekannte, es sei an diesem Abend so voll im Pub gewesen, daß man gar nicht mitbekommen habe, was eigentlich vorging. Sie verdüsterte sich wieder, als eine Frau mit einem karierten Kopftuch schilderte, wie sie Jem aus der Gasse hatte herauslaufen sehen. »Das Blut tropfte ihm von den Händen, und er hat ausgeschaut, als wären alle Höllenhunde hinter ihm her«, schloß sie in gruseligem Detail.
Romy kam niedergeschlagen nach Hause. Sie konnte sich denken, wie das Geschehen sich einem Außenseiter darstellen würde. Man brauchte sich die beiden Männer ja nur anzusehen, hier Ray, da Jem. Ray war selbstsicher, beherrscht und verstand sich auszudrücken. Er hatte nach Beendigung der Schule und vor seiner Einberufung zum Militärdienst in den Docks gearbeitet. Seine Familie – in der Nachbarschaft bekannt und respektiert – lebte seit Generationen in Blackfriars. Er war tadellos gekleidet gewesen. Er hatte wie ein aufrichtiger und mutiger junger Mann gewirkt. Bei dem Kampf hatte er den kürzeren gezogen. Er war das Opfer, der Unterlegene. Die Engländer, dachte Romy hoffnungslos, schlugen sich immer auf die Seite des Unterlegenen.
Auf der anderen Seite stand Jem, dessen Vater Selbstmord verübt hatte und dessen gewaltbereiter Stiefvater verschiedentlich mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Jem, der unweigerlich Leuten in die Hände zu fallen pflegte, die ihn ausbeuteten oder korrumpierten, sei es in Stratton, in Deutschland oder Brighton; der in den zwei Jahren seines Militärdiensts vor kleineren Diebstählen nicht zurückgeschreckt war; der es nie länger als ein paar Monate an einem Arbeitsplatz ausgehalten hatte; dessen frühere Arbeitgeber, wenn man sie befragte, bezeugen könnten, daß er unbeherrscht und jähzornig war.
Ich hätte ihm einen neuen Anzug kaufen sollen, dachte sie verbittert. Sie hatte sein Hemd gewaschen und Jackett und Schlips gebügelt, aber sie wußte, daß er im Vergleich zu Ray Babbs schäbig ausgesehen hatte, ein bißchen wie ein liederlicher Bursche. Rund um Jem schienen sich tiefe Fallgruben aufgetan zu haben, in die er, der immer leichtsinnig war und vergaß, an den eigenen Schutz zu denken, nur zu leicht hineinstürzen konnte.
Sie führte den Hund aus und fütterte die Katze. Sie bügelte die liegengebliebene Wäsche und erstellte für Mandy, ihre Assistentin im Trelawney, eine Liste der Dinge, die in den nächsten zwei Tagen erledigt werden mußten. Sie versuchte, etwas zu essen, ein Buch zu lesen, Radio zu hören. Aber sie hatte keinen Appetit, konnte sich beim Lesen nicht konzentrieren, so daß sie jeden Satz mehrmals wiederholen mußte, und das Gebabbel im Radio ging ihr auf die Nerven. Sie rief ihre Mutter an und bemühte sich, Zuversichtlichkeit auszustrahlen, aber sie blieb nicht in der Zelle, um auf Calebs Anruf zu warten. Sie fühlte sich erniedrigt und beschmutzt von den Ereignissen des Tages. Sie versuchte, sich an die Erinnerungen an Calebs Garten und an Middlemere zu klammern, aber die schienen plötzlich flüchtig und zerbrechlich. Furcht verdrängte die Liebe und ließ ihr keinen Platz. Die Spannung der letzten Monate hatte sich in einem Maß aufgebaut, daß es ihr schwerfiel, selbst einen Anschein von Normalität zu wahren.
Wenn der Prozeß vorbei ist, sagte sie sich, als sie sich an diesem Abend schlafen legte, wenn der Prozeß vorbei ist und alles wieder gut ist. Aber sie hatte das Vertrauen in diese beschwichtigenden Worte verloren. Sie hatte das Vertrauen in die Zukunft verloren. Mit jedem Glockenschlag in der Nacht – um zwei Uhr, um drei, um vier – schien die Furcht in ihrem Inneren zu wachsen und sich weiter auszubreiten.
Am folgenden Morgen sagten die Polizeibeamten aus. Draußen war der Himmel wolkenlos, und in den Korridoren und Treppenhäusern des Old Bailey ballte sich die heiße Luft schwül und stickig zusammen. Die Spannung des vergangenen Tages war einer stumpfen Müdigkeit gewichen. Jem wirkte unausgeschlafen und verdrossen. Romy hatte
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