Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
Streifen dunklen Wassers zwischen Land und Fähre breiter wurde; hatte daran gedacht, wie es wäre, in die heftig wogende See einzutauchen und zu spüren, wie das Wasser kalt und atemberaubend über ihm zusammenschlug und die sich endlos wiederholenden Gedanken, die ihn die letzten Wochen so sehr gequält hatten, wegspülte.
    Natürlich war er nicht gesprungen, sondern unter Deck gegangen, wo er sich an die Bar gesetzt hatte. Und als sie schließlich in Frankreich angelegt hatten, wurde er ganz vom Geschäft des Überlebens in einem fremden Land in Anspruch genommen. Er merkte, daß es gut gewesen war, dem Instinkt, der ihn zur Flucht getrieben hatte, zu folgen: Die völlig neue Lebenssituation und die Konzentration, die man brauchte, um sich in einer unbekannten Umwelt zurechtzufinden, lenkten ihn von alten Gedanken ab.
    Bei der Erkundung dieser neuen Welt war ihm bewußt geworden, wie begrenzt sein Leben bis dahin gewesen war. Je weiter er sich von England entfernte, desto freier fühlte er sich. Viel zu lange war er in einem komfortablen, durchaus kultivierten Gefängnis aus Selbstzufriedenheit und Engstirnigkeit, aus Geschichte und Tradition eingesperrt gewesen.
    Langsam, mit vielen Umwegen und Pausen, schlug er sich nach Südfrankreich durch. Er lernte, Wein zu trinken statt Bier; lernte, Gerichte zu essen, deren Zutaten ihm unbekannt waren und deren Namen er nicht übersetzen konnte. Er übernachtete in kleinen Pensionen, in heruntergekommenen Hotels an der Küste, und, nicht selten, im Freien unter den Sternen. Als ihm das Geld ausging, arbeitete er in Restaurants und bei den Bauern, auf Fischerbooten und als Fahrer für Geschäftsbetriebe aller Art. Er lernte, sich auf sich selbst zu verlassen und nicht an den nächsten Tag zu denken. Er entdeckte Fähigkeiten an sich, von denen er nie etwas geahnt hatte, und stellte fest, daß er allein, von Freunden und Familie abgeschnitten, überleben konnte.
    Manchmal kam es ihm vor, als sei er eben erst auf dem Weg zu sich selbst. In der Vergangenheit hatte er sich stets den Umständen angepaßt, eine liebenswürdige Maske aufgesetzt, um nirgends anzuecken. Zu Hause war er ein anderer gewesen als im Internat und später im Militärdienst, und wenn er zurückblickte, konnte er nicht sagen, welches der wahre Caleb Hesketh gewesen war. Er schien ständig die Gestalt zu wechseln – ein amorphes Geschöpf ohne feste Konturen. Nur selten, wenn extreme Verhältnisse es verlangten, hatte er sein wahres Selbst hervortreten lassen – bei Broadbent nach Pickerings Entlassung oder als seine Gefühle für Romy ihn gezwungen hatten, den Schein zu durchbrechen. Von der schlimmsten Lüge allerdings, jener Lüge, die an einem regnerischen Nachmittag von Evelyn Daubeny aufgedeckt worden war, hatte er nichts gewußt. Danach hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, als das Alte hinter sich zu lassen und in schmerzhafter Auseinandersetzung mit den nackten Tatsachen neu anzufangen.
    In dem Jahr, das er im Ausland verbrachte, schrieb er weder Karte noch Brief. Er führte ein einfaches Leben, das auf das Notwendigste beschränkt war und keinerlei Anforderungen an ihn stellte, als für sich selbst zu sorgen. Wenn ihm manchmal im Traum dieses oder jenes Gesicht erschien – das seiner Mutter oder das von Romy, als er ihr gesagt hatte, daß er sich von ihr trennen würde –, so verscheuchte er es am Morgen, indem er weiterzog an einen neuen, unbekannten Ort. Er schloß in diesem Jahr zahllose Freundschaften, hörte zahllose Geschichten. Manche dieser Geschichten berichteten von Leben, die aus der Bahn geraten oder von Unglück verfolgt waren. Auf einem staubigen, sonnenbeschienen Platz in Avignon teilte ein gebeugter Veteran des ersten Weltkriegs seine Erinnerungen an die Schlacht von Verdun mit ihm. In einer kleinen Bar in Marseille sagte ein hübsches junges Mädchen mit einer Gehschiene nur »Kinderlähmung«, als sie zu seiner Verlegenheit seinen Blick bemerkte. Allmählich gewann er einen Blick für die Verhältnismäßigkeit der Dinge, und seine eigenen Wunden schmerzten weniger und schienen sich zu schließen.
    Im Spätsommer 1957, als er den Park von La Mortola an der Riviera besichtigte, wurde er sich unversehens bewußt, daß er an England dachte. Diese plötzliche Sehnsucht überraschte ihn. Er hatte keine Pläne gemacht, seinem Exil keine zeitliche Grenze gesetzt. Zum erstenmal fühlte er sich gereizt von der sengenden Glut des südlichen Sommers, der träge über dem

Weitere Kostenlose Bücher