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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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winkte, wenn er von der Schule kam und die Abkürzung am Feld entlang hinunterrannte. Sein Vater war groß und stark und selbstsicher gewesen. Jem wußte, daß er zwar die Größe und die Körperkraft seines Vaters mitbekommen hatte, aber nichts von seiner Selbstsicherheit. Die hatte Romy geerbt. Jem war sich kaum je bei irgend etwas sicher gewesen. Nur bei Liz, und das hatte er gründlich vermasselt.
    Als er wieder zum Fluß hinunterschaute, sah er den kleinen Jungen, den blonden, auf einem der Trittsteine stehen. In der einen Hand hielt er ein Marmeladenglas, ein Fischernetz in der anderen. Jem behielt ihn im Auge. Nach solchen schweren Regenfällen war der Fluß reißend und in der Mitte sehr tief. Wenn der Junge zum nächsten Stein hinübersprang, würde er zu ihnen hinunterlaufen und ein Wörtchen mit ihnen reden, ihnen sagen, daß sie sich einen weniger gefährlichen Ort zum Spielen suchen sollten.
    Er holte seinen Tabak und sein Zigarettenpapier heraus und drehte sich eine Zigarette. Er trank keinen Tropfen mehr, aber er rauchte immer noch gern. Mit dem Trinken hatte er nach der Prügelei mit Ray Babbs aufgehört, die ihm gezeigt hatte, welche Wirkung der Alkohol auf ihn hatte. Menschen wie er sollten nicht trinken, Menschen, die so leicht die Beherrschung verloren. Und wenn er einmal die Beherrschung verloren hatte, dann konnte er sich anscheinend einfach nicht zurückhalten. In betrunkenem Zustand hatte er Dennis in sich gesehen, und das hatte ihn krank gemacht. Er hatte schlagen wollen, er hatte all die Dinge herausschreien wollen, die Dennis ihm ins Gesicht geschrien hatte. Jem drückte die Augen zu, aber die Worte klangen weiter, verströmten weiter ihr Gift. Du nichtsnutziger kleiner Mistkerl … Was glaubst du wohl, warum dein Alter sich das Hirn weggepustet hat? Weil er nicht sein Leben lang deine blöde Visage sehen wollte .
    Als er die Augen wieder aufmachte, sah er, daß der kleine Blonde von Stein zu Stein zur Flußmitte hin sprang. Er öffnete den Mund, um dem Jungen eine Warnung zuzurufen, aber dann fiel ihm ein, daß das den Kleinen erschrecken könnte, und er rannte statt dessen, so schnell er konnte, den Hang hinunter. Er war keine zwanzig Meter mehr vom Ufer entfernt, als der Junge beim Sprung zum nächsten Trittstein das Gleichgewicht verlor. Einen Herzschlag lang glaubte Jem, es würde dem Jungen gelingen, Halt zu finden, aber der nasse Stein war glitschig, die abgetretene Gummisohle des Kinderturnschuhs hatte keine Haftung, und der Junge glitt beinahe lautlos ins Wasser.
    Der andere Junge schrie. Jem rief ihm zu, er solle Hilfe holen, während er sich im Laufen die Jacke herunterriß und seine Schuhe von den Füßen schüttelte. Von Stein zu Stein springend, versuchte er den kleinen blonden Kopf im Auge zu behalten, der stromabwärts trieb. Dann warf er sich in den Fluß, klatschte mit einem harten, kalten Schlag ins Wasser und begann sofort gegen die Strömung zu kämpfen, die ihn mit sich fortreißen wollte. Obwohl er ein guter Schwimmer war und kräftig, brauchte er jedes Quentchen seiner Kraft, um den Jungen zu erreichen. Felsbrocken rissen ihm die Haut auf, und eisiges Wasser füllte ihm Nase und Augen. Er war nur noch ein paar Meter von dem Jungen entfernt, als seine Muskeln zu streiken drohten. Aber er zwang sich weiterzukämpfen: Er würde nicht zulassen, daß der Junge ertrank, weil so ein nichtsnutziger Versager wie er es nicht geschafft hatte, sich zusammenzureißen. Er rief sich vor Augen, daß es Danny sein könnte, und er rief sich vor Augen, wie gefährlich der Fluß war, wie er einen hinunterziehen und unter den Felsen oder in tiefen Unterwasserhöhlen festhalten konnte, bis er des Spiels müde war und einen irgendwo stromabwärts wieder ausspie, manchmal erst Tage später.
    Er streckte den Arm aus und bekam ein Stück Pullover zu fassen. Die Strömung wollte ihm das Kind entreißen, aber er hielt fest, krallte die Finger in die durchnäßte Wolle, zog den kleinen Jungen zu sich heran und schwamm zum Ufer. Bitte laß ihn am Leben sein, betete er. Bitte, Gott, wenn es dich gibt, dann laß ihn leben.
    Dann lag er mit zitternden Muskeln auf den Knien am Ufer und starrte wie gebannt zu dem Jungen hinunter, der im Gras lag. Und der Junge kniff die Augen zusammen und stieß einen langgezogenen, dünnen Jammerlaut aus. Mit einem tiefen Aufatmen der Erleichterung richtete Jem sich auf und hockte sich auf seine Fersen.
    Als er sicher war, daß mit dem Jungen alles in Ordnung war,

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