Das Erbe des Vaters
sah er sich nach den Hunden um. Tess war am anderen Ufer und wartete dort auf ihn – die gute Tess, so ein vernünftiges Tier. Sandy sah er nirgends. Zitternd stand er auf. Im Fluß konnte er etwas erkennen. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Stück Treibgut – ein alter Sack oder ein Stück Holz. Aber dann erkannte er Sandy, erkannte, daß der Hund ihm ins Wasser gefolgt war, um ihm zu helfen, und rannte die Böschung entlang. Er sah, daß der Hund zu schwach war und zu alt, um der Gewalt des Flusses Widerstand zu leisten.
Er zögerte keinen Augenblick. Sandy war ihm stets ein treuer Gefährte gewesen, und ohnehin hatte er Hunde immer lieber gehabt als Menschen. Sie waren offen und ehrlich zu einem und versuchten nie, einen reinzulegen. Er konnte Sandy sehen und glaubte, daß der Hund auch ihn gesehen hatte. Er sprang ins Wasser und schwamm. Er spürte den gewaltigen Druck der Strömung, der ihm die Kraft raubte. Er wußte, daß er erschöpft war, die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht hatte. Anfangs war es ihm gleich: Manchmal dachte er sowieso, er hätte genug. Aber dann dachte er an Danny. Ein Kind brauchte einen Vater. Er erinnerte sich, was der Verlust seines Vaters aus ihm gemacht hatte, und kämpfte weiter.
Romy saß in der Bar gegenüber vom Manhattan Club. Sie trug ihren blaßblauen Paquin-Mantel und einen schwarzen Hut mit einem kleinen Schleier, der über ihre Augen reichte. Sie trank Whisky Soda. Es war kurz vor elf. Auf der anderen Straßenseite kamen die ersten Männer in den schwarzen Mänteln und den weißen Schals und verschwanden hinter der Tür von Johnnie Fitzgeralds Lokal.
Sie dachte an das letzte Mal mit Jem und erinnerte sich der Mischung aus Furcht und Sehnsucht in seinem Blick. Sie wußte, daß er langsam, ganz langsam und zaghaft doch anzunehmen wagte, er könne Danny ein guter Vater sein; daß er begann, an sich selbst zu glauben. Aber sie wußte auch, daß dieses Selbstvertrauen zerbrechlich war, hart verdient und leicht zu zerstören. So oft in der Vergangenheit hatte sie die Hoffnung gehabt, er würde endlich ruhig werden, Fuß fassen; so oft war ihre Hoffnung vernichtet worden. Ihre größte Angst blieb: daß er niemals zur Ruhe kommen und eines Tages einfach auf und davon gehen würde, so weit fort, daß sie ihn nie wiedersehen würde.
Sie hatte die Geschenke aufbewahrt, die Jem ihr im Lauf der Jahre gemacht hatte. Erst an diesem Abend hatte sie sie herausgenommen: das rosarote Kaninchen, die Schwanenbrosche aus Perlen, die Flasche Parfum. Sie hatte den Flakon geöffnet, dem, obwohl er lange leer war, noch immer ein feiner Duft entströmte. Denken Sie darüber nach, ob Sie Ihre Geheimnisse nicht lieber für sich behalten wollen. Denken Sie darüber nach, was Ihnen das wert ist . Die Worte, die sie zur Entscheidung zwangen, hatten sie gemartert, während sie das Parfum eingeatmet hatte.
Aber letztlich war es nichts anderes als eine geschäftliche Transaktion. Wieviel ihrer Zeit, vom ersten bis zum letzten Schritt gerechnet, würde es sie kosten, sich an Johnnie Fitzgerald zu verkaufen? Eine Stunde? Weniger? Eine Stunde ihres Lebens – das war doch kein hoher Preis für die Garantie, daß Jem und sie in Zukunft unbehelligt bleiben würden. Und sie konnte ja die Augen schließen, wenn er sie berührte. Sie konnte an etwas anderes denken, wenn er sie küßte.
Die Männer hatten das Geld, und ich hatte etwas, das sie haben wollten , hatte Mrs. Plummer gesagt. Vor Jahren hatte sich diese mit einem ähnlichen Geschäft gerettet. Und es war ja nicht so, als wäre sie ein unschuldiges Kind. Es war nicht einmal so, daß sie nur mit Männern ins Bett gegangen war, die sie liebte. In den ersten zwei Jahren als Eigentümerin des Trelawney hatte sie mit einem Mann geschlafen, weil sie einsam gewesen war, und mit einem anderen, weil sie geglaubt hatte, damit die Erinnerung an Caleb auslöschen zu können.
Bei dem Gedanken an Caleb überfiel sie wieder tiefe Beklommenheit. Er hatte sie gebeten, seine Frau zu werden. Alles in ihr hatte gedrängt, ja zu sagen. Aber wie hätte sie seinen Antrag annehmen können, wenn sie vorhatte, sich an Johnnie Fitzgerald zu verkaufen?
Sie würde es geheimhalten, beschloß sie verzweifelt, und wußte doch im selben Moment, daß das unmöglich war. Geheimnisse hatten es an sich, immer gerade dann ans Licht zu kommen, wenn es einem am wenigsten paßte; sie hatten es an sich, mit den Jahren ein ungeheures Gewicht zu bekommen. Sie konnte ihre Ehe nicht
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