Das Erbe des Vaters
die Umgebung, in der sie aufgewachsen war.
Ohne Mrs. Plummer, ohne Jake und seine Freunde wäre sie nichts gewesen. Mit Jake hatte sie das leichtlebige, unkonventionelle London kennengelernt, das in Soho gedieh. Sie war anderen Denkweisen und anderen Lebensstilen begegnet. Mit Mrs. Plummer war sie nach Frankreich gereist und hatte das Mittelmeer gesehen, Palmen, die eine Bucht umkränzten. Gemeinsam hatten Mrs. Plummer und Jake es ihr ermöglicht, die Provinz, aus der sie gekommen war, hinter sich zu lassen, ihren Horizont zu erweitern und sich selbst auf die Spur zu kommen. Diese beiden – und natürlich Caleb – hatten sie zu einem anderen, besseren Menschen gemacht. Sie hatten sie lieben gelehrt.
Aber auch die frühen Jahre ihres Lebens hatten ihr Wichtiges beigebracht. Die Vertreibung aus Middlemere und die Jahre in Stratton hatten sie überleben gelehrt. Ihre Familie – ihr Vater, ihre Mutter, selbst Dennis – hatte ihr die Kraft und den Willen zum Erfolg mitgegeben. Sie schämte sich ihrer Herkunft nicht mehr; sie hatte gelernt, stolz auf das zu sein, was sie war. Sie hatte einen weiten Weg zurückgelegt und begann allmählich zu erkennen, welche Richtung sie als nächstes einschlagen mußte.
Sie ging in ein Café und bestellte sich einen Kaffee. Fünf oder sechs Mädchen standen tuschelnd und kichernd um den Musikautomaten herum. Sie hatten schwarze Rollkragenpullis und weite bunte Röcke an und trugen die Haare entweder im Pagenschnitt oder knabenhaft kurz. Die Füße in den flachen Ballerinas wippten im Takt zum Rock and Roll. Ihre Augen waren schwarz umrandet, und sie strahlten Jugend, Sinnlichkeit und Freiheit aus. Romy kam sich uralt vor mit ihrem nüchternen grauen Kostüm, dem Tweedmantel, den Perlen, dem strengen Haarknoten, dem altmodischen roten Lippenstift. Sie war zurückgefallen, hatte sich selbst ausgeschlossen von der Erregung und dem Gefühl von Freiheit, die mit dem nahenden Beginn des neuen Jahrzehnts London in Schwung brachten.
Sie konnte den Kaffee nicht trinken, schob die Tasse von sich. Sie nahm ihre Puderdose heraus und wischte sich den roten Lippenstift ab. Dann zog sie die Nadeln aus ihrem Haar. Es fiel ihr weich und glänzend auf die Schultern.
Swanton Lacy hatte sich verändert, seit Caleb es zuletzt gesehen hatte. Rost fraß am großen schmiedeeisernen Tor, und Pfützen standen auf dem schmalen Weg. Die Sommerblumen in den Beeten hingen welk und ungepflegt.
Evelyn Daubeny öffnete ihm. Caleb hatte sich für diesen Moment gewappnet. Er hatte Groll erwartet, vielleicht sogar Haß. Aber sie sagte nur: »Caleb, danke, daß Sie gekommen sind«, und ließ ihn ein.
Wie das Haus hatte auch Evelyn Daubeny sich verändert. Ihr Haar war kürzer, und es war mehr Grau darin. Sie trug eine lange Hose und einen dicken Pullover, sehr vernünftig, denn es war eiskalt im Haus.
Als sie im oberen Flur waren, drehte sie sich nach ihm um. »Nur zehn Minuten, Caleb. Er ist sehr krank. Er liegt im Sterben. Dr. Lockhart sagt, er hat höchstens noch ein paar Tage.« Sie hielt inne, schien nach Worten zu suchen. Dann sagte sie: »Seien Sie freundlich zu ihm, wenn Sie können.«
Sie öffnete eine Tür. Dieses Zimmer war stickig und überheizt, es roch nach Desinfektionsmitteln wie im Krankenhaus. Osborne Daubeny lag von Kissen gestützt im Bett. Caleb hörte seinen röchelnden Atem.
Evelyn berührte die Schulter ihres Mannes. »Osborne, Caleb ist hier.«
Daubenys Atmung schien sich im Ton zu verändern. Als Caleb sich dem Bett näherte, sah er, was die Krankheit aus Osborne Daubeny gemacht hatte. Der einst imposante Mann war auf Haut und Knochen geschrumpft. Die früher frische, rötliche Haut war jetzt gelblich, wächsern. Die kleinste Bewegung schien ihn höchste Anstrengung zu kosten. Calebs Schätzung nach konnte er nicht viel älter als sechzig sein, aber die Krankheit hatte ihn zum Greis gemacht.
»Caleb«, flüsterte Daubeny.
Evelyn ging hinaus. Daubenys Atem pfiff und röchelte. Er sagte: »Ich war mir nicht sicher, daß du kommen würdest, mein Junge.«
Calebs Mund war wie ausgedörrt. »Ich mir zuerst auch nicht.«
»Ich bin froh, daß du es über dich gebracht hast. Ich erwarte nichts von dir. Aber ich möchte dir etwas geben.« Er hielt inne. »Ich werde bald sterben. Das Haus und der Garten – Swanton Lacy – werden mit mir sterben. Aber ich habe etwas für dich aufgehoben. Evelyn wird es dir geben.«
»Es ist doch nicht nötig –«
»Ich möchte es gern.«
In der
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