Das Erbe des Vaters
hatte. Vielleicht lag das in der Familie. Vielleicht würde sie diesmal … – wenn es ein Diesmal war! Und dabei klopfte Evelyn hastig dreimal auf Holz – vielleicht würde sie diesmal das Kind behalten und austragen.
Aber sie wußte auch, daß sie sich keine zu großen Hoffnungen machen durfte. So oft war auf die Hoffnung Enttäuschung gefolgt, daß sie jetzt eine abergläubische Furcht hatte, die Intensität ihrer Sehnsucht allein könnte den zarten Lebenskeim in ihrem Schoß gefährden. Trotzdem mußte sie, während sie aufräumte und saubermachte, immerfort denken: ein Kind, nach so langer Zeit. Ein Kind nach der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit von fünf Fehlgeburten. Es war ihr gleich, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde; ob es dunkel wie Osborne oder hell wie sie sein würde. Alles würde sie auf sich nehmen, um ein lebendes Kind zu gebären. Alles. Wenn sie endlich ihren Sohn oder ihre Tochter in den Armen halten könnte, würde sie die Jahre des Kummers und der Sehnsucht vergessen. Das Gefühl der Frustration und die nagende Angst würden verschwinden. Ihr Leben hätte endlich einen Sinn.
An diesem Vormittag machte Evelyn den Salon und das Speisezimmer sauber, putzte das Silber und die Gläser und zählte das Porzellan. Nach dem Mittagessen nahm sie sich ihre Lieblingsarbeit vor, holte blühende Forsythien und Kirschen aus dem Garten und verteilte sie in japanischen Vasen. Die Radcliffes und die Maxeys kannte sie seit Jahren, aber die Longvilles hatte sie noch nicht kennengelernt. Sie kam selten mit neuen Menschen zusammen. Osborne sah keinen Anlaß, den Kreis ihrer Bekannten zu erweitern; er war kein Mensch, der schnell mit anderen warm wurde.
Am späten Nachmittag war Evelyn todmüde und hatte Kopfschmerzen. Sie schlüpfte in ihren Mantel und ging hinaus, um frische Luft zu schnappen. In der Ferne sah sie Osborne neben den Überresten der eingestürzten Brücke stehen. Die gewölbte Brücke aus dem achtzehnten Jahrhundert hatte einmal den Bach vor der Mündung in den See überspannt; Photographien von Swanton Lacy aus der Vorkriegszeit zeigten die äußerste Zerbrechlichkeit des anmutigen Bauwerks. 1944 hatte ein betrunkener Soldat mit seinem Jeep über die Brücke fahren wollen, und sie war eingestürzt. Die Zeit hatte Osbornes Zorn über diesen mutwilligen Akt der Zerstörung nicht gedämpft.
Nach einem flotten Gang durch den Rosengarten vor dem Haus fühlte Evelyn sich neu belebt. Sie würde jetzt einmal sehen, wie weit Mrs. Vellacott mit den Vorbereitungen für das Essen war, dann in Ruhe ein Bad nehmen und sich fertigmachen.
Sie machte sich auf den Weg zur Küche. Dampf zischte, Töpfe klapperten, und der Heißwasserboiler machte wie immer einen unheimlichen Radau; das war vermutlich der Grund gewesen, dachte Evelyn später, daß Mrs. Vellacott sie nicht kommen hörte. Die Küchentür stand offen. Evelyn blieb wie angewurzelt im Flur stehen, als sie sah, wie Mrs. Vellacott mit teuflischer Freude im Gesicht die Asche von ihrer Zigarette in die Champignonsuppe schnippte.
Erst als sie alle am Tisch saßen, kam Evelyn dazu, sich die Longvilles richtig anzusehen. Beim Begrüßungssherry war sie noch viel zu aufgebracht und nervös gewesen, um sich irgendeine Meinung über Hugo und Morwenna Longville zu bilden. Eine halbe Stunde später, als der erste Gang auf dem Tisch stand (Grapefruit aus der Dose; grauenvoll, aber bei dem Gedanken an Champignoncremesuppe wurde ihr übel), war sie endlich ruhig genug, um sich einen Eindruck zu verschaffen.
Morwenna Longville sah so aus, wie Evelyn selbst gern ausgesehen hätte, wenn sie die Wahl gehabt hätte: schlank und anmutig, mit schwerlidrigen grünen Augen in einem feingeschnittenen Gesicht und dunklem Haar, in dem sich das erste Grau zeigte. Hugo Longville war ein gutaussehender und sympathischer Mann; er hatte das Gespräch während des heiklen ersten Teils des Abends in Schwung gehalten, als Osborne ganz damit beschäftigt gewesen war, Richard Maxey seine neuesten Pläne für die Wiederherstellung des Parks auseinanderzusetzen und Evelyn zu sehr durcheinander gewesen war, um ein vernünftiges Wort hervorzubringen.
Sie waren mit dem ersten Gang fast fertig, als Osborne fragte: »Sind Sie Jäger, Longville?«
»Ich bin früher gern mal auf Hetzjagden mitgeritten. Aber in den letzten Jahren nicht mehr.«
»Die Gegend hier ist für Hetzjagden gut geeignet.«
»Ich halte mich lieber an Autos als an Pferde. Die sind
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