Das Erbe des Vaters
Halbgläser hinweg und sagte: »Ah, die Kanzlei. Sie sind Mr. Gilfoyles Sekretärin. Und Sie haben einen ungewöhnlichen Namen, nicht wahr? Romy. Ja, richtig, Romy.«
»Romy Cole. Ja, Mrs. Plummer«, sagte sie höflich. »Ich hoffe, ich störe nicht, so unangemeldet.«
»Aber nein. Hat Ihr Besuch einen bestimmten Grund, Romy?«
»Äh … ja …« Sie sprach nicht weiter.
»Dann sagen Sie mir, warum Sie gekommen sind, Kind.« Mit ihren scharfen dunklen Augen sah sie Romy forschend an. »Sind Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Ich bin nach London gekommen, um meinen Bruder zu besuchen. Aber er ist umgezogen, und ich weiß nicht, wohin.«
»Aha.«
»Und ich habe keine Bleibe. Ich kenne außer Ihnen niemanden in London.«
Mrs. Plummer runzelte die Stirn. Dann sagte sie: »Setzen Sie sich, Romy. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Oder trinken Sie lieber Tee? Ich selbst mag Tee nicht.«
»Kaffee«, sagte Romy und fügte hastig »bitte« hinzu.
Mrs. Plummer griff zu einem Telefon und bestellte Kaffee. Als er gebracht wurde, goß sie zwei Tassen ein. Die Tassen war aus durchscheinendem Porzellan mit einem blauen Streublumenmuster, und der Kaffee schmeckte ganz anders als der Camp-Kaffee, den sie zu Hause immer tranken.
»Sie können also Ihren Bruder nicht finden«, sagte Mrs. Plummer langsam, »und haben keine Bleibe … Mir scheint, es wäre das beste, Sie würden nach Hause fahren.«
»Das kann ich nicht«, sagte sie leise.
»Warum nicht?«
»Weil ich eben nicht kann.« Sie hatte nicht unhöflich sein wollen, aber so kam es heraus.
»Sie haben kein Geld?«
»Das stimmt, aber –«
»Dann leihe ich Ihnen das Geld für die Bahn. Sie können es mir zurückzahlen, wenn Sie es haben.«
Mrs. Plummer holte ihr Portemonnaie aus ihrer Handtasche, nahm zwei Pfundnoten heraus und hielt sie Romy hin.
Romy schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr nach Hause. Wirklich nicht.« Zur ihrem Entsetzen traten ihr Tränen in die Augen.
Mrs. Plummer sagte scharf: »Junge Mädchen glauben häufig, die Straßen in London wären mit Goldstücken gepflastert, aber so ist es nicht. Für eine junge Frau ganz allein ist es nicht so leicht, in der Großstadt zu überleben. Sie hätten es zu Hause bei ihrer Familie viel besser, glauben Sie mir.« Sie hielt inne, um Romy mit aufmerksamem Blick zu mustern. »Oder verschweigen Sie mir etwas? Ihr Gesicht. Was ist da passiert?«
Sie konnte nicht antworten. Sie wußte selbst nicht warum, aber sie schämte sich über das, was Dennis ihr hatte antun wollen.
Mrs. Plummer sagte energisch, aber freundlich: »Mir können Sie es sagen, Kind. Es gibt fast nichts, was mir fremd ist. Hat jemand Sie geschlagen? Ja? Wer? Ihr Freund?«
Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich hab keinen Freund.«
»Sehr gescheit. Männer machen nur Ärger.«
Romy wischte sich die Augen mit dem Ärmel. Mrs. Plummer reichte ihr ein Taschentuch. »Dann jemand aus Ihrer Familie? Hat jemand aus Ihrer Familie Sie geschlagen?«
Sie biß sich fest auf die Lippe.
Mrs. Plummer sagte leise: »Mich hat mein Vater immer mit der Peitsche geschlagen. Er meinte, das wäre gut für meine Seele. Darum bin ich von zu Hause weggegangen. Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Wie merkwürdig, daß ich es gerade Ihnen sage. Aber wir könnten hier für die nächsten ein bis zwei Wochen ein Zimmermädchen gebrauchen. Eines der Mädchen ist im Krankenurlaub. Meinen Sie, Sie würden das schaffen, Romy? Betten machen und Böden putzen für ein Dach über dem Kopf?«
Mit einem Ruck sah sie hoch, starrte Mrs. Plummer an. »O ja! Bitte!«
»Sie bekommen ein Pfund die Woche, alle Mahlzeiten und Unterkunft. Vorübergehend natürlich«, fügte Mrs. Plummer hinzu. »Nur bis Ihr Bruder wiederauftaucht.«
In dieser Nacht schlief sie in einem Zimmer in der Mansarde des Hotels. Es war sparsam eingerichtet, aber gemütlich. Von den zwei schmalen Eisenbetten gehörte eines Sally, dem Zimmermädchen, das im Krankenurlaub war. Durch die schrägen Fenster blickte man auf eine Dächerlandschaft hinaus, die wie ein graues wogendes Meer im Mondlicht lag. Kamine ragten, Klippen ähnlich, die eine stürmische See durchbohrten, von den Dächern empor, und auf den Schornsteinkappen hockten aufgeplusterte Tauben.
Am Fenster stehend, nahm sich Romy vor: Ich werde nicht mehr an Dennis denken. Ich werde ihn einfach vergessen. Noch eine Erinnerung, die in den dunklen Schrank eingeschlossen würde, in den sie alle schlimmen Dinge
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