Das Erbe des Vaters
berechenbar.«
»Aber nicht bei deiner Fahrweise, Hugo«, neckte Longvilles Frau.
Richard Maxey sagte: »Verhinderter Rennfahrer, hm?«
»Ich hole gern das Letzte aus einem Auto raus«, sagte Hugo. »Ich sehe nicht ein, warum ich im Schneckentempo herumzuckeln soll. Das macht doch keinen Spaß.«
»Oh, da wäre Evelyn aber anderer Meinung«, sagte Osborne. »Evelyn zuckelt mit Vorliebe.«
Hugo Longville wandte sich ihr zu. Ihr fiel auf, daß er blaue Augen hatte; es war ein richtiges, tiefes Blau, weder das dunkle Graublau von Osborne noch diese wäßrige Farblosigkeit, die die Leute so oft als blau bezeichneten. Unwillkürlich begann sie, sich zu rechtfertigen: »Die Straßen hier sind so schmal – und so kurvig – wenn da plötzlich ein Traktor vor einem auftaucht …« Unter dem Eindruck dieses tiefblauen Blicks geriet sie ins Stocken.
»Evelyn fährt jederzeit einen Extrakilometer, um eine vielbefahrene Kreuzung zu meiden«, sagte Osborne. »Sie hat sich nie ans Autofahren gewöhnt.«
»Stimmt, ich fahre nicht besonders gut«, räumte Evelyn in entschuldigendem Ton ein und blickte in die Runde. »Kann ich schon abdecken?«
Sie stellte die Schalen aufs Tablett und trug dieses in die Küche. Dort lehnte sie sich an den Tisch und schloß die Augen. Noch Stunden, ehe sie sich endlich in ihr Bett würde verkriechen können, um im Schlaf Trost zu finden.
Sie gab sich einen kleinen Ruck und öffnete die Backrohrklappe. Die Kartoffeln waren angebrannt, das Frühlingsgemüse war matschig. Und ständig bedrängte sie der Gedanke, den sie sich unbedingt vom Leibe halten mußte, daß Mrs. Vellacott auch die anderen Gerichte auf ihre Art gewürzt hatte: in die Soße gespuckt oder Mäusekot in den Obstsalat gestreut hatte.
Ihr drehte sich beinahe der Magen um, und ihr Herz raste. Sie suchte im Küchenschrank nach Aspirin und nahm drei Tabletten auf einmal. Dann kam Anne Radcliffe in die Küche und fragte: »Kann ich dir was helfen, Evelyn?« und sie nahm sich zusammen.
Als sie alles hinausgetragen hatten und Osborne den Rinderbraten aufschnitt, hatte sich das Gespräch dem Thema Kinder zugewandt. Josephine Maxey erzählte gerade von den Vorbereitungen für die Hochzeit ihres ältesten Sohnes.
»Pauls Verlobte möchte sieben Brautjungfern haben. Stellt euch das mal vor! Ich hatte zwei. Irgendwie finde ich das vulgär mit sieben Brautjungfern. Das hat man doch höchstens bei königlichen Hochzeiten.«
Evelyn fragte: »Haben Sie Kinder, Morwenna?«
»Zwei Töchter.« Morwenna lächelte.
»Wie alt?«
»Jennifer ist siebzehn, und Delphine ist zwölf.«
»Das sind ja entzückende Namen – haben sie Tradition in Ihrer Familie?«
»Die Namen hat Morwenna ausgesucht«, sagte Hugo. »Das ist nicht mein Ressort.«
James Radcliffe bemerkte: »Unsere drei sind die reinsten Geißeln Gottes. Ihr habt keine Ahnung, wie froh ich immer bin, wenn die Schule wieder anfängt.«
»Tja«, meinte Osborne lächelnd, »unsere kurze Erfahrung mit Kindern im Haus war recht heilsam.«
Gereizt dachte Evelyn: Ach, du lieber Gott, jetzt kommt wieder mal die Geschichte von den verschickten Kindern. Die Maxeys und die Radcliffes kannten sie schon, es war eine von Osbornes Lieblingsgeschichten.
»Noch jemand Kartoffeln?« fragte sie, aber er ließ sich nicht beirren. Sie hörte die altbekannten Worte. »Es war Anfang des Krieges … Die Kinder, die man aus der Stadt aufs Land verschickt hatte, standen wie die Zinnsoldaten im Gemeindesaal aufgereiht … man mußte selbst wählen … erbärmliche kleine Rotznasen aus dem East End von London … die meisten sahen aus, als hätten sie noch nie ein Stück Seife gesehen …«
Sie hatte den Bericht so oft gehört, daß sie ihn Wort für Wort hätte nacherzählen können. In ihren eigenen Worten erzählt, hätte er allerdings ganz anders geklungen.
Er kam zum Höhepunkt seiner Erzählung. »Evelyn«, sagte er, »suchte sich die zwei häßlichsten kleinen Dreckspatzen aus.«
»Du hättest ein kleines Mädchen nehmen sollen wie ich, Evelyn«, warf Josephine ein. »Die sind einfacher zu handhaben. Gloria schreibt mir heute noch zu Weihnachten.«
Evelyn hörte sich hastig sagen: »Sie sahen so verloren aus – natürlich, sie haben furchtbar angegeben und sich schlecht benommen, aber ich wußte, daß unter der Fassade –, und keiner wollte sie haben.« Sie wünschte aus tiefstem Herzen, irgend jemand würde sie verstehen.
»Evelyn glaubte, sie könnte die beiden ein bißchen auf
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