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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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vorübereilenden Menschenmengen nach ihm, aber er zeigte sich nicht. Ihr wurde immer beklommener zumute, und eine neue Furcht ergriff sie. Was, wenn Jems Abwesenheiten immer länger wurden, wenn aus Tagen Wochen oder Monate oder gar Jahre wurden? Was, wenn er eines Tages fortging und nicht wiederkam? Was, wenn er so weit fortging, daß sie ihn nicht finden konnte? Sie sah ihn vor sich, von der dünnen, unbegründeten Hoffnung getragen, die typisch für ihn war.
    Sie ging in die Toilette im hinteren Teil des Lokals und blickte in den Spiegel. Ihr nasses Haar hing strähnig herab, und ihr Gesicht war kreideweiß bis auf die violette Schwellung unter ihrem linken Auge. Sie hatte weder Kamm noch Zahnpasta noch Lippenstift bei sich. Sie zog ihr Haar tiefer ins Gesicht, um den Bluterguß zu verstecken, und dachte an die Kleider in ihrem Schrank am Hill View und an ihr Sparbuch, das unerreichbar unter der Matratze ihres Betts versteckt lag. Sie wußte, daß sie heruntergekommen und verzweifelt aussah. Wußte auch, daß sie in diesem Zustand keine Arbeit finden würde, daß keine Pension ihr nur auf das Versprechen späterer Zahlung hin ein Bett für die Nacht geben würde.
    Das Café begann sich zu füllen. Leute, die auf dem Heimweg von der Arbeit eine Tasse Tee trinken oder eine Kleinigkeit essen wollten, strömten herein. Bald war jeder Tisch besetzt. Sie würde nicht endlos hier sitzen können. Sie schaute in ihre Geldbörse und zählte ihre Barschaft. Elf Shillinge und vier Pence. Als sie weiter kramte, geriet ihr die kleine Karte in die Finger, die in dem Etui steckte, das eigentlich für Pfundnoten gedacht war, und sie zog sie heraus. Mrs. Mirabel Plummer , stand in schwarzer Kursivschrift darauf. Darunter war die Adresse angegeben: Trelawney-Hotel, 7 Parfitt Gardens, WC1 .
    In der Untergrundbahn landete Romy in einer falschen Linie nach der anderen, bis sie schließlich an ihren Ausgangspunkt zurückkehrte und noch einmal ganz von vorn anfing. Jetzt spürte sie nicht einmal mehr Furcht, nur noch Erschöpfung und grimmige Entschlossenheit. Am Russell Square fragte sie einen Zeitungsjungen nach dem Weg nach Parfitt Gardens und vergaß sofort, was er gesagt hatte, weil sie so todmüde war, daß sie sich nichts mehr merken konnte. Vorüberkommende Passanten rempelten sie von allen Seiten an, während sie – endlos, wie ihr schien – am Straßenrand stand und auf eine Lücke im Verkehr wartete.
    In Parfitt Gardens bildeten die hohen Häuser mit den eleganten Fassaden einen Schutzwall gegen den Lärm der Stadt. In der Mitte des Platzes lag der kleine Park. Romy ging unter alten Bäumen und zwischen grünen, etwas düsteren Sträuchern hindurch, bis sie eine Bank fand. Dort setzte sie sich, schloß die Augen, atmete den Duft der Rosen ein und lauschte dem Gesang einer Amsel, die hoch oben auf einer Pappel saß. Es war, als hätte der Sturm, in den sie unversehens geraten war, sich plötzlich gelegt.
    Sie hätte auf der Bank einschlafen können, und es kostete sie ihre ganze Willenskraft, aufzustehen und aus der Grünanlage hinauszugehen, um nach dem Trelawney-Hotel Ausschau zu halten. Es war nicht schwer zu finden. Aus mehreren Stadtvillen zu einem ansehnlichen Gesamtbau zusammengefügt, nahm es fast eine ganze Seite des Platzes ein.
    Romy holte einmal tief Luft und überquerte dann die Straße. Als sie dem Portier Mrs. Plummers Karte hinhielt, sah dieser sie sich argwöhnisch an und sagte: »Ich werde nachfragen, ob Mrs. Plummer Besuch empfängt.« Er ging hinein. Romy erhielt einen flüchtigen Eindruck vom Inneren des Hotels, bevor die Tür sich hinter ihm schloß. Fröstelnd wartete sie auf der Vortreppe und wärmte sich mit der Erinnerung an helle Lichter und üppige Farben.
    Der Portier kehrte zurück und führte sie in ein Foyer mit schwarzweißem Marmorboden, karminroten Samtvorhängen und funkelnden Lüstern. Gäste in Abendkleidung saßen in tiefen Sesseln, die im Raum verteilt standen, oder kamen gerade die breite Treppe herunter. Aus einem anschließenden Raum hörte sie Klaviermusik und gedämpftes Gläserklirren.
    Am Ende des Korridors klopfte der Portier an eine Tür und öffnete sie. »Die junge Dame, die Sie zu sprechen wünscht, Mrs. Plummer«, sagte er.
    Die Tapete in Mrs. Plummers Salon hatte rote und cremeweiße Streifen, auch hier gab es tiefe Sessel und dunkle, schwere Vorhänge. Mrs. Plummer hatte ein taubengraues Seidenkleid mit schwarzem Samtbesatz an. Sie musterte Romy über den Rand ihrer

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