Das Erbe des Vaters
die restlichen zwanzig Zimmer in Ordnung. Olive war schon grau und ihr drahtiger Körper gebeugt, trotzdem pflegte sie sich zu schminken und trug in ihrer Freizeit Rüschenblusen in grellem Pink, ihrer Lieblingsfarbe, unter einem altehrwürdigen Kunstpelz. Teresa war wesentlich jünger, nur wenige Jahre älter als Romy, eine zierliche Irin mit einem hübschen Gesicht, hellbraunem Haar und grünen Augen. Sie war gläubige Katholikin und tat, als könnte sie kein Wässerchen trüben, trotzdem hatte sie gelegentlich eine äußerst deftige Ausdrucksweise und immer ein offenes Ohr für Klatschgeschichten.
Romy lernte schnell, wie die Betten gemacht und die Zimmer gereinigt werden mußten. Die Leintücher und Kissenbezüge waren so steif gestärkt, daß man das Gefühl hatte, mit Pappe zu hantieren. Olive zeigte ihr, wie man die Bettdecken samt Einschlagtüchern richtig unter die Matratzen schob, und Teresa, wie man die Bettüberwürfe faltenlos glattzog. Wenn sie die Betten fertig hatte, wunderte sich Romy manchmal, daß die Gäste überhaupt die Kühnheit aufbrachten, die kalte weiße Perfektion von Kopfkissen und Decke zu zerstören, und fragte sich, wie sie es schafften, sich zwischen die straffgespannten Leintücher zu zwängen.
Jeden Tag mußten die Möbel mit Bienenwachs eingerieben werden, das nach Lavendel duftete, die Spiegel mußten poliert und die Teppiche gesaugt werden. Bettvorleger und Vorhänge mußten ausgeklopft, schmutziges Geschirr und Besteck in die Küche befördert, Bilder- und Sockelleisten abgestaubt und die Fenster geputzt werden. Danach folgten die Badezimmer: die großen weißen Wannen und die Waschbecken mußten mit Vim geschrubbt werden, die Wasserhähne mit Poliermittel bearbeitet, die großen flauschigen Hand- und Badetücher täglich gewechselt werden.
Mit der Zeit lernte sie alle Geheimnisse des reibungslosen Ablaufs im Hotel kennen. Sie entdeckte, daß die prompte Bedienung und der unaufdringliche Luxus, mit denen die Gäste verwöhnt wurden, das Ergebnis unermüdlicher harter Arbeit hinter den Kulissen war. Sie sah, daß Mrs. Plummer ein strenges Regiment führte und selbst Mr. Starling, der stets korrekte und würdevolle Geschäftsführer, sprang, wenn die Chefin rief.
Eines Morgens kündigte Mrs. Plummer eine Inspektion der Zimmer an. Teresa wurde blaß, sie sah aus, als würde sie sich gleich übergeben. »Bitte nicht in einem von meinen Badezimmern«, sagte Olive mitleidlos. Aber die Inspektion verlief glatt, und am Schluß gratulierte Mrs. Plummer allen drei Zimmermädchen zu ihrer Arbeit. Wenn die Chefin sich, wie sie das täglich tat, für einige Stunden entfernte, um nach ihrem Nachtklub zu sehen, pflegte das ganze Hotel aufzuatmen vor Erleichterung.
Romy stand jeden Morgen um sechs Uhr auf und begann um sieben mit der Arbeit. Um elf hatte sie eine Viertelstunde Pause für eine Tasse Tee und eine Zigarette, und um halb zwei folgte die Mittagspause. Dann saßen sie in der großen Küche an einem Tisch und schwatzten. Teresa erzählte Romy und Olive von ihren Verehrern, die nicht zu zählen waren. Olive sprach von ihren Leiden, die ebenfalls zahlreich waren, und ihren vier Söhnen, die mit ihren Familien im East End lebten. Romy sagte wenig über ihr früheres Leben und erfand eine so langweilige Vergangenheit für sich, daß Olive und Teresa die Lust zu fragen verging.
Sie schrieb ihrer Mutter, versicherte ihr, es gehe ihr gut, und bat sie, ihr ihre Kleider und ihr Sparbuch zu schicken. In einem Anfall von Großzügigkeit setzte sie eine Nachschrift unter den Brief. »P.S. Sag Carol, sie kann meinen Gesichtspuder und mein Yardley-Körperpuder haben.« Sie machte sich Sorgen um Jem. Wohin war er verschwunden? Hatte er eine Arbeit gefunden? Hatte er eine Unterkunft, genug zu essen?
An ihren freien Nachmittagen, während Olive strickte und dabei ab und zu einnickte und Teresa von der Hintertreppe des Souterrains aus ihre kleinen Flirts abwickelte, erforschte sie London. Anfangs fürchtete sie noch, sich zu verlaufen, und wagte sich nicht weit über die Grenzen von Parfitt Gardens hinaus, wo die üppigen grünen Bäume und Rasenflächen selbst an den heißesten und staubigsten Tagen kühle Frische spendeten. Aber schon bald siegte die Neugier über die Zaghaftigkeit, und sie unternahm erste Ausflüge ins benachbarte Bloomsbury. Sie ging ins Britische Museum und wanderte zwischen kalten Marmorpharaonen und falkenköpfigen Göttern umher. Sie ging über die Southampton Row
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