Das Erbe des Vaters
ihre Schönheit sie von den traurigen Dingern mit den grellgemalten Gesichtern unterschieden, die nachts auf der Straße standen. Sie arbeitete hart, sparte jeden Penny und machte den Gästen des Klubs unmißverständlich klar, daß sie Geschenke von Wert erwartete. Keine falschen Juwelen oder Kaninchenstolen. Sie war wählerisch, was die Männer anging, mit denen sie sich einließ, ließ aber nie zu, daß Gefühl über geschäftliche Vernunft die Oberhand gewann. Sie trauerte um ihren verlorenen Ruf, aber anstatt sich davon niederdrücken zu lassen, beschloß sie, ihn sich später, wenn die Zeiten wieder besser waren, zurückzuholen.
Mitte der zwanziger Jahre, als sie unter den Folgen einer verpfuschten Abtreibung litt, gab sie einen Teil ihrer Ersparnisse für eine Kreuzfahrt aus. Auf dem Fest zur Feier der Überquerung des Äquators lernte sie Bill Plummer kennen. Er war als Neptun verkleidet, sie als Seejungfrau. Er war ein großer, schwerfälliger Mann und stolperte ständig über ihren Fischschwanz. Er war außerdem, wie sie schnell herausbekam, reich und verwitwet.
Drei Wochen später heirateten sie. Die Trauung fand an Bord des Schiffes statt, in Sichtweite von Bills Zuhause, einer Gummiplantage in Malaya. Sie lebten fünf Jahre miteinander, und es war kein schlechtes Leben gewesen, dachte sie oft, wenn sie zurückblickte, obwohl sie sich nie an die Hitze gewöhnt hatte und Bill gewisse Vorlieben hegte, die wenig denen eines Gentlemans entsprachen. Aber sie hatte ja längst gewußt, daß die meisten Männer so waren.
Als Bill 1929 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, kehrte sie nach England zurück. Sie behielt Bills Nachnamen, änderte aber ihre Frisur und ihren Vornamen. Den Namen Ada hatte sie nie gemocht; er hatte so etwas Altmodisches, Biblisches. Sie entschied sich für Mirabel, einen hübschen und etwas frivolen Namen, der, meinte sie, zu der Frau paßte, die sie zu werden gedachte.
Drei Monate nach ihrer Rückkehr nach England kaufte sie mit dem Geld, das Bill ihr hinterlassen hatte, einen Nachtklub in Soho. Sie bekam ihn zu einem günstigen Preis, weil mit dem Zusammenbruch der internationalen Börsen wieder harte Zeiten eingekehrt waren. Sie führte das Lokal mit eiserner Hand und achtete darauf, jeden Ärger zu vermeiden, sei es mit der Polizei oder anderen, weniger erquicklichen Zeitgenossen, die nur darauf warteten, sich ins Geschäft zu drängen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Sie erlaubte keine Glücksspiele in ihrem Lokal und ließ keine Prostituierten herein. Aber da ihr wohlbewußt war, wie leicht sie eine von ihnen hätte werden können, ließ sie den Frauen, die tapfer in Regen und Kälte auf der Straße verharrten, abends meist Kaffee und Tee sowie einen Happen zu essen bringen.
Sie nannte ihr Lokal Marrakesh und ließ es ausstatten wie etwas aus Tausendundeine Nacht , aber mit Geschmack, keine Bauchtänzerinnen oder ähnliches. Sand- und Terrakottatöne, Messinglaternen aus Antiquitätengeschäften oder Trödelläden.
Das Geschäft lief von Anfang an gut. Sie kümmerte sich selbst darum. Fast jeden Abend konnte man sie auf einem Hocker am Tresen sitzen sehen, wo sie ihren bevorzugten Cocktail trank. Die meisten Männer, die ins Marrakesh kamen, waren in sie verliebt, die meisten Frauen, die diese Männer begleiteten, beneideten Mirabel Plummer. Sie konnte ihren Gästen Mutter, Schwester oder Geliebte sein. Sie bot Anteilnahme, Kameradschaft, Ermutigung.
1933 heiratete sie wieder. Vernon Wright war zwanzig Jahre älter als sie und an Frauen nicht interessiert, wie sie sehr schnell entdeckte. Aber nach dem ersten Schock machte es ihr im Grunde genommen nichts aus. Unter ihren Gästen im Marrakesh gab es eine ganze Reihe Homosexueller, die meisten nette Kerle. Die Ehe hielt, weil Mirabel und Vernon das gleiche suchten: Ehrbarkeit. Vernon, ein erfolgreicher Geschäftsmann, brauchte eine Ehefrau; Mirabel brauchte ein Entree in andere Kreise als jene, die das Marrakesh frequentierten. Hinter der Fassade einer gutbürgerlichen Ehe gingen sie beide ihren privaten Interessen nach: Vernon widmete sich seinen jungen Matrosen; Mirabel ihrem Liebhaber Lewis Trelawney.
1940 starb Vernon an einer Lungenentzündung, die er sich zuzog, als er sich eines Nachts im Nebel verlief, weil wegen des Krieges die Straßenschilder abgenommen worden waren, und Lewis starb an der Tuberkulose, die ihn zwanzig Jahre lang ausgezehrt hatte. Vernon vererbte Mirabel ein stattliches Barvermögen, und Lewis
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