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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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der Arbeit als Zimmermädchen wären ihre Talente verschwendet gewesen, und Mirabel haßte alle Verschwendung.
    Sie und Romy hatten natürlich ihre Meinungsverschiedenheiten. Romy war aufbrausend und mußte noch lernen, ihr Temperament zu zügeln; es fehlte ihr an gesellschaftlichem Schliff, den mußte man ihr erst noch beibringen. Zu ihrer eigenen Überraschung bereitete es Mirabel Freude, Romys Lehrerin zu sein. Wahrscheinlich, dachte sie ironisch, werde ich auf meine alten Tage sentimental. Sie hatte keine eigenen Kinder (nach jener letzten unerquicklichen Abtreibung war sie nicht mehr schwanger geworden), und Romy war für sie eine Art Tochterersatz.
    Oft, wenn sie Romy betrachtete, verspürte sie neben der Zuneigung eine heftige Wehmut. Romy hatte ihre Zukunft noch vor sich, besaß noch ihre Unschuld und ihren Optimismus. Manchmal schien es Mirabel, daß sie selbst die meisten dieser Güter schon vor langer Zeit verkauft hatte.
    Im Februar 1954 reiste Romy mit Mrs. Plummer nach Nizza. Sie wohnten im Hotel Splendide am Boulevard Victor Hugo. Manchmal, wenn Mrs. Plummer keine anderen Termine hatte, aßen sie zusammen zu Abend. Mrs. Plummer schrieb Kommentare über die Speisen und die Bedienung in ein kleines goldenes Notizbuch, während Romy ständig beobachtete, ständig Neues lernte.
    Und es gab so viel zu lernen. Sie hatte den Dialekt ihrer Kindheit abgelegt und sprach jetzt ein kultivierteres, weniger eigenwilliges Englisch. Sie wußte, daß man nicht Stube sagte, sondern Wohnzimmer; nicht Erdapfel, sondern Kartoffel. Sie lernte, aus dem aufgedeckten Besteck das richtige Messer und die richtige Gabel zu wählen; zu warten, bis der Kellner ihr den Stuhl herauszog, anstatt selbst zuzupacken; ihre Kaffeetasse richtig zu halten und nicht mit der ganzen Hand zu umschließen; das Essen auf ihrem Teller in mundgerechte Stücke zu schneiden, mit geschlossenem Mund zu kauen, auf keinen Fall mit vollem Mund zu sprechen. Wenn sie einen Fehler machte und in alte Hill-View-Sitten verfiel, war Mrs. Plummer gnadenlos. Eine Dame kippt ihren Wein nicht hinunter, Romy – sie trinkt ihn. Oder: Wenn Sie Ihre Suppe unbedingt schlürfen wollen, Kind, dann sollten Sie das vielleicht im stillen Kämmerlein tun. Bei solchen ruhig gesprochenen Worten brannten Romy die Wangen vor Scham. Niemals machte sie einen Fehler zweimal.
    Morgens nahm Romy Diktat auf und schrieb das Diktierte dann auf der Maschine; nachmittags hatte sie frei. In einen blaßblauen Wollmantel gehüllt, den Mrs. Plummer ihr geschenkt hatte – »Er ist alt, aber er ist von Paquin, ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, ihn wegzuwerfen. Und in diesem schrecklichen Trenchcoat wird man Sie im Hotel nicht zur Tür hereinlassen« –, ging sie die Promenade des Anglais entlang. Die Wellen rollten krachend in die Baie des Anges, und die großen Blätter der Palmen knallten wie Fahnen im Wind. Das ist das Mittelmeer, dachte sie. Ich bin Romy Cole, und ich gehe am Mittelmeer spazieren. Es kam ihr vor wie ein Wunder.
    Nach vierzehn Tagen kehrten sie nach England zurück, in den Hotelalltag, der Romy schon vertraut war. Januar und Februar waren die ruhigsten Monate; danach wurde das Geschäft das Frühjahr und den Sommer hindurch von Monat zu Monat lebhafter. Es kamen die hektischen Wochen der Blumenausstellung in Chelsea und der Tennismeisterschaften in Wimbledon, in denen jedes Zimmer im Hotel belegt und jeder Tisch im Restaurant besetzt war. Frauen in geblümten Kleidern mit schicken kleinen Hütchen auf dem Kopf flatterten durch das Foyer wie farbenprächtige Schmetterlinge. Dann folgte der August, und es wurde ruhig in der Hauptstadt, die Leute fuhren aufs Land oder ans Meer in die Ferien, und sie konnten aufatmen. Romy mochte den August, ihr gefiel die Stimmung hitzeglühender Erschöpfung auf Straßen und Plätzen, die Mattigkeit, die sich über London zu senken schien. In diesen traumhaften, staubigen Wochen pflegte sie das Fenster ihres Zimmers aufzustoßen und die Tauben zu beobachten, die auf dem Dach herumspazierten, oder sie legte sich zusammen mit Olive und Teresa zwischen den schmutzigen Lorbeerbüschen am Parfitt Square ins Gras und las ein Buch oder schwatzte mit den beiden anderen.
    Im September, wenn die Nebel kamen, kehrten die Gäste zurück: Geschäftsleute, die in der City zu tun hatten, und gelangweilte Hausfrauen aus der Provinz, die zuviel Geld hatten und in London ihre Wintergarderobe einkauften. An den Wochenenden stiegen meist Paare

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