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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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verantwortlich war. Osborne Daubeny. Romy sprach den Namen laut aus und ließ die einzelnen Silben einen Moment auf der Zunge liegen, um sie zu kosten. Sie schmeckten bitter wie die Schlehen, die sie und Jem einst gepflückt hatten, wenn sie den heckengesäumten Weg nach Middlemere zurückgegangen waren.

Teil 3
    Die Brücke
    1954–1956

6
    M IRABEL P LUMMER HATTE IMMER an das Glück geglaubt. Nicht an das unverdiente Glück, das manche Menschen von vierblättrigen Kleeblättern und anderen Symbolen des Aberglaubens erwarteten, sondern an jenes Glück, dessen Schmied, wie sie Romy erklärt hatte, man selbst war.
    Und sie hatte immer Glück gehabt. Sehr früh in ihrem Leben hatte sie gelernt, mit offenen Händen zur Stelle zu sein, wenn die goldenen Taler herabfielen. Sie besaß Ehrgeiz und einen scharfen Verstand, und es bereitete ihr keine Mühe, den Moment zu erkennen, wo das Glück einen Haken schlug und zu neuen Ufern führte. Sie hatte sich nie von der Vergangenheit aufhalten lassen, bog die Gegenwart ohne Skrupel nach ihren Wünschen zurecht, wenn sie ihr nicht paßte, und verfügte über die Phantasie und die Energie, um genau zu wissen, was sie vom Leben wollte – und es sich zu holen. Und sie war eine mutige Frau: Sie hatte den Mut, alles zu verändern, alles zu wagen.
    Sie war nicht immer Mirabel Plummer gewesen, die Herrscherin des Trelawney-Hotels. Geboren wurde sie als Ada Prowse, dritte Tochter eines Landarbeiters aus Hampshire, einem religiösen Fanatiker, der seinem Glauben durch eiserne Askese und körperliche Züchtigung seiner Töchter diente. Als Ada im Alter von vierzehn Jahren von zu Hause wegging, um eine Stellung als Küchenmädchen anzunehmen, waren ihre Beine und ihr Rücken von grünblauen Blutergüssen übersät.
    Das Haus, in dem sie ihre erste Stellung antrat, war der Erbsitz der Familie Gilfoyle. Nun war sie zwar den Stockschlägen ihres Vaters entronnen, aber schon warteten andere Herausforderungen auf sie. Im kühlen Dunkel der Speisekammer stahl ein Bediensteter sich einen Kuß. Als sie mit vollbeladenem Tablett durch den Korridor eilte, stand plötzlich der jüngere Sohn des Hauses vor ihr und hielt sie auf. Mit der einen Hand grapschte er nach ihrem Busen, mit der anderen schob er langsam und bedächtig ihre Röcke und Unterröcke hoch.
    Anfangs erschreckten sie diese Zwischenfälle. Über den Dienstboten hätte sie sich vielleicht bei der Haushälterin beschweren können; aber bei wem hätte sie sich über Charlie Gilfoyle beschweren sollen? Doch sie erkannte schnell, daß sie nicht ohnmächtig war; ihr Körper war eine Waffe, der ihr über jene, die stärker, reicher und von besserer Herkunft waren als sie, Macht verlieh. Sie hatte eine schöne Haut, üppiges kastanienbraunes Haar und blitzend blaue Augen und war so früh entwickelt, daß sie schon mit fünfzehn wie eine erwachsene Frau aussah. Sie lernte zu flirten, zu locken, mehr zu versprechen, als sie zu geben beabsichtigte. Sie tauschte Küsse gegen Gefälligkeiten und gab mehr für einen Elfenbeinkamm oder einen silbernen Armreif.
    1914 brach der Krieg aus. Sechs Monate später zog Ada von Hampshire nach London. Sie marschierte einfach eines Morgens mit ihrem Bündel aus dem Haus, ohne sich vom wütenden Geschrei der Haushälterin aufhalten zu lassen. Sie war auf den ersten Blick hingerissen von London, ähnlich erging es ihr nur noch einmal in ihrem Leben. Schnell fand sie eine Anstellung als Straßenbahnfahrerin. Sie liebte diese Arbeit, den Geruch nach Staub und Metall in ihrem kleinen Fahrerhäuschen, das erregende Gefühl, das sich ihrer bemächtigte, wenn sie das große, schwerfällige Fahrzeug durch die belebten Straßen der Stadt lenkte. 1916 begegnete sie in einem Pub in Bethnal Green einer Frau, die einmal Zimmermädchen bei den Gilfoyles gewesen war. Charlie Gilfoyle, erzählte sie, war an der Somme gefallen. Ada erinnerte sich an Charlie mit dem überheblichen Lächeln und den frechen Händen und verspürte keinen Funken Bedauern.
    1918 war der Krieg vorbei. Sie verlor ihre Stellung an einen Heimkehrer von der Front und hatte in diesen harten Jahren der wirtschaftlichen Flaute und Arbeitslosigkeit Mühe, etwas Neues zu finden. Sie hätte natürlich wieder in den Haushalt gehen können, aber das, hatte sie sich geschworen, würde sie niemals tun. Statt dessen kam sie in einem Nachtlokal in Mayfair als Animierdame unter. Sie machte sich keine Illusionen über ihre Arbeit, sie wußte, daß einzig ihre Jugend und

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