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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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enthielt nur ein Blatt, darauf hatte Tom geschrieben: »Ich denke immerzu an Dich.« Sie hatte das Gefühl, daß das alles zu schnell ging, außer Kontrolle zu geraten drohte. Sie wollte innehalten, reglos auf der Höhe dieses Gipfels stehenbleiben, wo alles möglich schien. Aber als er im Hotel anrief und fragte, ob sie sich am Wochenende sehen könnten, sagte sie sofort zu. Die ganze Situation hatte etwas Unausweichliches, als würden sie und Tom so schnell nicht wieder voneinander loskommen, ganz gleich, was sie sagte oder tat. Schicksal, hatte er gesagt. Bestimmung.
    Am Sonntag machten sie einen Spaziergang zu einem alten Friedhof. Der Krieg und die Zeit hatten die steinernen Engel auf den Gräbern gezeichnet, Moos und Efeu überzogen mit Flechten bewachsene Grabsteine, und der Regen tropfte von den Zypressen und den Eiben, deren Beeren wie Korallen leuchteten. Abends ging er mit ihr in ein dunkles altes Pub am Themseufer, wo man den Fluß und das faulende Holz roch und das Plätschern des Wassers an den Piers hörte. Als die Tür knarrte, blickte Romy auf und erwartete beinahe, einen Fährmann im Südwester zu sehen oder einen verwitterten alten Schiffskapitän mit einem Holzbein und einem Papagei auf der Schulter.
    Sie traf sich jeden Sonntag mit Tom. Sie lernte seine Freunde kennen: Magnus, Dave, Psyche, Susie und die ganze bunte Clique von Studenten, künftigen Schriftstellern und Malern, die mit ihnen herumzog – das Gefolge, dachte Romy manchmal, von König Magnus. Magnus Quenby mit seinem kalten Blick und seinem scharfen Intellekt beherrschte und manipulierte sie alle, stachelte sie zu hitzigen Diskussionen an, die bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Manchmal schlich Romy sich einfach davon und floh in die köstliche Stille ihrer kleinen Wohnung, oder sie schlief auf dem Boden zwischen den schmuddeligen Polstern, den Zigarettenstummeln und den halbgeleerten Kaffeetassen ein, den Kopf auf Toms Schoß gebettet, von seiner Hand gestreichelt. Sie gehörte dazu, die anderen akzeptierten sie, es war selbstverständlich, daß sie dabei war. Das hatte etwas ungeheuer Überraschendes und Befriedigendes.
    Sie fuhren fast nie mit der Untergrundbahn, nahmen selten einmal einen Bus. Hand in Hand marschierten sie kreuz und quer durch London und redeten. Immer redeten sie. Erst nach einer Weile ging ihr auf, daß Tom kein Geld hatte, überhaupt keines. Daß er zu Fuß ging, weil er sich die öffentlichen Verkehrsmittel nicht leisten konnte; daß sie selbst reich war im Vergleich zu Tom Barnes. Als Zeitungsträger und Spüler in einem Café verdiente er gerade genug, um nicht zu verhungern.
    Die triste Kargheit seiner Einzimmerwohnung in Kentish Town war bedrückend. Darin standen ein Klappsofa, das mit einem glänzenden braunen Stoff bezogen war, ein Tisch und ein Stuhl. Auf dem Tisch waren eine Schreibmaschine, Papier, Stifte, ein Ersatzfarbband und ein Tintenradierer. Ein Teil von Toms Kleidern hing an einem Haken an der Tür, der Rest war in eine Plastiktüte gestopft. Die Küchenausstattung bestand aus einem Wasserkessel, einem Topf und einem Gasring, geheizt wurde mit einem Heizlüfter, der nur eine Röhre hatte und eine stickige, nach Staub riechende Wärme verbreitete.
    An einem strahlenden Mainachmittag verlor sie auf dem glänzenden braunen Sofa ihre Unschuld. Während sie sich küßten und liebkosten, übernahm ihr Körper, der dies so dringend brauchte, die Führung und traf die Entscheidung für sie. Aber es war nicht so, wie sie erwartet hatte. Sie hatte eine Erkältung und bekam kaum Luft, als er sie umarmte. Das Präservativ sprang ihm aus den nervösen Fingern, und sie mußte sich auf die Lippe beißen, um das hysterische Lachen zu unterdrücken, das ihn ohne Zweifel in peinliche Verlegenheit gestürzt hätte. Das Ganze war so viel schneller vorbei, als sie es sich vorgestellt hatte, und auf eine unerklärliche Weise so viel weniger und so viel mehr zugleich, als sie erwartet hatte. Er schrie laut auf und drückte sie an sich, während er sie küßte, und gemeinsam rutschten sie vom Sofa und landeten, in Kleider und Decken verwurstelt, auf dem eiskalten Linoleum. Sie betrachtete ihn, als er sich mit geschlossenen Augen ausstreckte, und war sich gemischter Gefühle bewußt: Erleichterung – Jungfräulichkeit galt nichts in Soho, das wußte sie –, Stolz – sie war in eine neue Phase ihres Lebens eingetreten, hatte sich wieder ein Stück aus der erstickenden Enge ihrer Herkunft befreit – und

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