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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Wange zum Kuß. »So, und jetzt ab mit dir. Fahr vorsichtig und mach dir ein paar schöne Tage mit Kate.«
    Evelyn hatte, wie immer, wenn sie aus Bournemouth abfuhr, halb ein schlechtes Gewissen, halb war sie erleichtert. Als ihre Eltern bald nach dem Krieg aus Indien nach England zurückgekehrt waren, hatte sie sich auf ein neues Kapitel in ihrem Leben gefreut. Sie hatte ja ihre Eltern nie richtig gekannt. Ihre Kindheit und Jugend sowie einen großen Teil ihres Erwachsenenlebens hatte sie ohne sie verbracht, Tausende Kilometer von ihnen getrennt. Briefe und Photographien konnten diese Trennung nicht überbrücken. Evelyn hatte gehofft, daß sich mit der Heimkehr ihrer Eltern eine nähere Beziehung zwischen ihnen entwickeln würde, aber der Tod ihres Vaters so kurz nach dem Erwerb des Hauses in Bournemouth war ein Schlag gewesen, und heute, neun Jahre später, konnte Evelyn die Beziehung zu ihrer Mutter nur als distanziert beschreiben. Sie wußte nicht, was schuld daran war – vielleicht daß Venetia so großen Wert darauf legte, unabhängig zu sein und keine Schwäche zu zeigen; vielleicht auch, daß sie selbst so zaghaft war. Oder aber sie waren einfach zu lange getrennt gewesen, und es war keine Annäherung mehr möglich.
    Jedem ihrer Besuche in Bournemouth haftete so etwas Deprimierendes an. Ihre Mutter, die durch die Arthritis ans Haus gefesselt war, hatte im Ort kaum Freunde gefunden. Evelyn konnte sich gut vorstellen, daß sie mit ihrer scharfen Intelligenz, ihrer Zurückhaltung und ihrer ungewöhnlichen Biographie – die vielen Jahre in Indien – auf andere nicht unbedingt anziehend wirkte. Zum Telefon hatte Venetia immer ein gestörtes Verhältnis gehabt; es war für sie nicht mehr als ein Mittel, wesentliche Informationen zu übermitteln. Am Telefon einen gemütlichen Schwatz zu halten wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Ihr gesellschaftlicher Umgang schien sich heute fast ausschließlich in Briefen abzuspielen – auf cremefarbenem Basildon Bond mit Bekannten in Großbritannien und auf dünnem blauem Luftpostpapier mit den wenige Freunden, die nach der Unabhängigkeit in Indien geblieben waren. Und mittlerweile waren die meisten dieser Freunde, mit denen Venetia teilweise jahrzehntelange Beziehungen verbanden, krank oder gebrechlich, einige waren auch schon tot. Im Leben ihrer Mutter mußten Lücken klaffen, die Evelyn selbst mit dem besten Willen niemals würde schließen können.
    Oft dachte sie, wie absurd es war, daß sie und ihre Mutter so weit voneinander entfernt lebten, jede in einem großen, leeren Haus. Aber als sie nach dem Tod ihres Vaters den Vorschlag gemacht hatte, ihre Mutter solle zu ihr nach Swanton Lacy ziehen, hatte diese abgelehnt. Sie wolle am Meer leben, hatte Venetia mit Entschiedenheit gesagt. Sie habe es in Indien immer vermißt. Evelyn hatte den Verdacht, daß Osborne über die Absage ihrer Mutter erleichtert gewesen war, selbst wenn er das niemals auch nur angedeutet hatte. Es war schwer, sich ihre Mutter und Osborne unter einem Dach vorzustellen: zwei stolze, eigensinnige Menschen.
    Aber jeder Pflichtbesuch machte Evelyn den allmählichen gesundheitlichen Verfall ihrer Mutter deutlich. Venetia war jetzt fast achtzig. Wenn sie sich vorstellte, welch ein Kampf es jedesmal für ihre Mutter sein mußte, sich morgens aus dem Bett zu quälen und abends wieder niederzulegen, wurde ihr das Herz schwer. Ihre Mutter brauchte Betreuung, jemanden, der bei ihr im Haus lebte, aber es war ungeheuer schwierig, die richtige Person zu finden, und dann mußte man Venetia erst noch davon überzeugen, daß es gut für sie war.
    Als sie sich auf dem Weg nach Norden von der Küste entfernte, ließ der Verkehr deutlich nach. Evelyn, die eine ängstliche Autofahrerin war, entspannte sich. Voller Freude dachte sie an Kates bevorstehenden Besuch und begann, Pläne zu schmieden.
    Am Ende der Woche brachte Evelyn Kate zum Zug nach London. Sie verabschiedeten sich gerade voneinander, als sie Hugo Longville aus dem Zug auf dem Bahnsteig nebenan klettern sah. Sie umarmte Kate und fragte noch einmal, ob sie alle ihre Sachen habe, bevor sie sie in den Zug einsteigen ließ.
    »Kate, Liebes«, sagte sie, »du weißt, daß du jederzeit zu mir kommen kannst. Du bist immer willkommen. Und zu Hause wird sich bestimmt alles zum Besten wenden.«
    Kate machte ein finsteres Gesicht und gab einen Laut von sich, der verriet, daß sie davon nicht überzeugt war.
    »Hier.« Evelyn drückte ihrer Patentochter einen

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