Das Erbe des Zitronenkraemers
Zumindest könnte ich ihn und sein Verhalten dann leichter beobachten. Vielleicht würde mir ja etwas auffallen. Dank Juttas schriftlichem Navigationsprotokoll fand Hannes die richtige Autobahnabfahrt, und sie tuckerten gemütlich über Bombogen, Ürzig, vorbei an der Abfahrt Kinderbeuren Richtung Mont Royal. Nachdem sie ein Feriendorf hinter sich gelassen hatten, das Hannes unweigerlich an bunt bemalte „Wohnklos“ der Holländer erinnerte, fuhren sie endlich auf den Parkplatz des von Anne begeistert ersehnten Adventure-Parks.
Es war ein herrlicher Herbsttag. Die Sonne schien warm vom azurblauen Himmel, die Temperatur war angenehm, und Anne sprang voller Vorfreude aus dem Wagen, noch bevor Hannes die Handbremse richtig angezogen hatte.
Stolz erzählte sie ihm, dass hier früher einmal eine Festung angelegt war, die Festung Mont Royal, daher noch heute der Name.
Hannes hörte gar nicht zu, war mit seinen Gedanken ganz woanders. Mist. Insgeheim hatte er gehofft, der Park wäre im Herbst für Besucher geschlossen. Doch die zahlreichen Autos auf dem Parkplatz ließen das genaue Gegenteil zur Wahrheit werden. Während des Aussteigens durchforstete Hannes sein laienhaftes medizinisches Gedächtnis. Welche Krankheit könnte mich vom Herumhüpfen zwischen Baumwipfeln befreien, ohne wie ein jämmerlicher Angsthase vor Anne dazustehen? Hämorrhoiden? Nein, peinlich. Bandscheibenvorfall? Unwahrscheinlich. Golferarm? Spiele ich etwa Tennis oder Golf? Kreislaufkollaps? Irgendwie unmännlich. Verstauchung des Sprunggelenks? Dazu müsste ich erst mal stolpern. Blinddarm? Ach, alles Quatsch …
„Jetzt komm endlich!“, riss ihn Anne aus seinen Gedanken. Ohne es zu wissen einem Herzinfarkt bedrohlich nahe, folgte Hannes ihr zu dem hübsch anzusehenden Holzhaus.
Nicht, dass Hannes wirklich Höhenangst gehabt hätte, schließlich stand er als Winzer regelmäßig im Steilhang und als Jäger auf dem Hochsitz seinen Mann. Doch in diesen Fällen hatte er wenigstens einen vernünftigen Grund!
Aber nur so zum Spaß an schlingernden Seilen herumhängen? Na, ich weiß nicht …
Anne stand bereits vor der Anmeldung und nahm von einem mit beiger Dschungelbekleidung „geschmückten“ Mann einen Zettel in Empfang. Auch so ein armes Schwein wie ich, dachte Hannes noch, als er einen dunkelgrünen Kombi auf den Parkplatz einbiegen sah, bevor er um die Ecke kam und Anne freudig anlächelte.
Nachdem Hannes unterschrieben hatte, an keiner psychischen, geistigen oder körperlichen Störung zu leiden und sein Leib und Leben sowie ein möglicher Unfalltod absolut in seiner Verantwortung lagen, bekam er von einer hübschen Blondine eine Kletterseilausrüstung umgeschnallt. Zuvor aber hatte man die Besucher noch darüber informiert, dass alle männlichen Mitarbeiter des Kletterparks der Einfachheit halber auf den Namen „Paul“ hörten; auf diese Weise garantiere man in Notsituationen schnellstmögliche Hilfe, da niemand sich unnötig Namen behalten müsse.
Anne war bereits auf dem Weg zum Einführungskurs, und Hannes folgte ihr nach. Paul, einer der Experten, zeigte ihnen nun, wie man die beiden Sicherungshaken in das Drahtseil einzuhängen hatte. Niemals beide gleichzeitig lösen!, schärfte er ihnen ein. Dann unterwies er sie darin, wie man die Rollen für die Seilbahnen fachmännisch befestigte, erklärte ihnen die Farbmarkierungen für Sicherheitsseile und Rutschseile. Zum Schluss demonstrierte er ihnen noch, wie man am Ende der Seilbahn laufen musste, um keine unsanfte Landung zu riskieren. Nachdem Hannes in 30 Zentimetern Höhe vorführen sollte, dass sein Hirn das Erläuterte auch verstanden hatte, löste er zu seiner Schande während der Übung beide Sicherheitshaken gleichzeitig, und zu allem Überfluss verlor Hannes auch noch die abgedrehte Rolle für die Seilbahn. Wenigstens durfte er trotzdem auf den Kinderparcours. Und Hannes‘ Ehrgeiz war geweckt. Immerhin war er inzwischen ein „Erleuchteter“; anders als der Mann, der sich eine „Angstzigarette“ hatte anzünden wollen. Hannes wurde darüber aufgeklärt, dass Feuer das Nylonseil beschädigen könnte; daher war das Rauchen im Park absolut verboten. Gott sei Dank war er dem „Nikotingott“ nie verfallen. Dass Rauchen tödlich sein konnte, erfuhr hier eine ganz neue Bedeutung.
„Oh, hallo!“ Hannes entging der Wechsel von Annes Gesichtsfarbe von Herbstweiß in ein frühlingshaftes Zartrosa nicht. Erfreut, aber auch eine Spur verlegen hatte sie einen Mann in der
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