Das Erbe des Zitronenkraemers
entfuhr ihm. Es war viel zu spät geworden. Er würde erst morgen zu ihm fahren können. Sein Besuch bei ihm war seit Langem überfällig. Nicht, dass der Alte noch misstrauisch wird. Er stand auf und rieb sich die müden Augen. Giulias Bild trug er zu seinem Nachttisch und versteckte es in der Schublade. Er würde ihr später einen Gute-Nacht-Kuss geben.
Kapitel 30
Anne versuchte vergeblich, Jutta zu besänftigen. Diese lief aufgebracht in Hannes‘ Wohnzimmer auf und ab. Hannes war nicht anwesend, verbrachte seine Zeit in der Jägerkneipe, nachdem Anne ihn gebeten hatte, zu gehen. Sie wollte mit Jutta allein sprechen.
„Jutta, jemand versucht, Hannes umzubringen“, brachte Anne in möglichst ruhigem Tonfall hervor. „Aber doch nicht Michael!“, schrie Jutta ihre Wut hinaus. „Warum sollte er denn? Wie kommst du überhaupt auf diesen absurden Gedanken? Er hat heute den halben Tag bei der Polizei verbracht, dank dir!“, heulte Annes Freundin.
„Nun, nicht meinetwegen, vielmehr wegen des Fahrrads, wegen des Klickschuhs, wegen des gestohlenen Tagebuches …“, versuchte Anne ihr zu erklären.
„Er hat das Tagebuch aber nicht gestohlen!“ Jutta schaute Anne in die Augen. „Das war ich.“
„Was?“ schrie Anne verblüfft. „Ja, ich war das“, erwiderte Jutta, „ich habe es mitgenommen, als ich letzten Sommer mal bei dir war. Sollte eine Überraschung werden. Für dich. Eine Übersetzung des Tagebuches. Als Buch gedruckt. Als Weihnachtsgeschenk von deiner besten Freundin. Übersetzt von meinem Freund, dem Altphilologen.“
Anne stockte der Atem. Warum hat Jutta denn nicht schon längst was gesagt?, fragte sie sich.
Unvermutet klingelte es an der Tür. Stöhnend erhob sich Anne von ihrem Sessel. Eigentlich wollte sie die weinende Jutta jetzt nicht mit irgendwelchem Besuch konfrontieren. Sie würde jeden vor der Tür abwimmeln. Paula, die zunächst in aufgeregtes Bellen ausgebrochen war, hatte sich schon wieder in ihr Körbchen zurückgezogen. Na, so schlimm kann es also eigentlich nicht sein, dachte Anne und öffnete zögerlich die Tür. Niemand war zu sehen. Seltsam. Dann blickte sie zu Boden. „Oh nein!“ Für einen kurzen Moment hielt Anne den Atem an. Vor der Tür lag wieder ein Päckchen, eingepackt in goldenes Papier. Anne bückte sich und hob es auf. Verunsichert und vorsichtig trug sie es ins Wohnzimmer.
„Und von wem ist das schon wieder?“, fragte Anne mit bebender Stimme. Jutta wusste nichts darauf zu erwidern und schaute zu, wie ihre Freundin mit zitternden Händen die Schachtel öffnete. Heraus zog diese ein Schmuckstück; eine goldene Anstecknadel in Pferdeform, dazu ein Foto. Anne erkannte sich selbst wieder, nur mit blasserer Gesichtsfarbe und in historischer Gewandung. Angewidert warf sie beides Jutta vor die Füße. Dann las sie den beiliegenden Zettel. Von Ambrosius für Giulia. Für Immer.
„Und wo ist dein Michael jetzt?“ Anne blickte ihre Freundin vorwurfsvoll an.
„Er wollte zeitig schlafen gehen. Hat morgen früh einen Termin in Köln“, antwortete Jutta, und ohne Luft zu holen fügte sie hinzu:
„Und außerdem ist er wieder zuhause, weil sein Fahrradschuh nicht mit dem Abdruck von dem in Bekond übereingestimmt hat.“ Jutta setzte einen trotzigen Blick auf, „Und im Übrigen, die Schriftprobe hat zweifelsfrei ergeben, dass nicht er selbst es war, der seinen Namen auf den Anmeldebogen des Kletterparks geschrieben hat. Irgendjemand will ganz bewusst den Verdacht auf Micha lenken!“
„Na ja, Schuhe kann man wechseln, weißt du?“, entkräftete Anne die Beweisführung Juttas. Wie viele dieser netten Geschenke soll ich denn noch zur Polizei chauffieren, bis die mal in die Pötte kommt?, fragte sie sich. „Und übrigens, Jutta, eine Schrift lässt sich locker fälschen!“
Kapitel 31
Schönemann war erleichtert, ihn wiederzusehen. Also hatte er ihn doch nicht im Stich gelassen. Allerdings, er musste auf der Hut sein, zu viel Misstrauen hatte ihm die Polizei ins Herz gesät.
Ohne Umschweife und so harmlos wie möglich sprach er seinen Besucher an, was er denn da draußen so treibe, ob es für ihn gut laufe und wie es seinem Freund ergehe. Genauer konnte er sich nicht ausdrücken, der Wärter hatte seine Ohren permanent in der Nähe.
Aber der Mann verstand. Alles sei bestens, antwortete er ihm, alles entwickele sich zu seiner vollen Zufriedenheit. „Hier“, er legte ein paar Fotos auf den Tisch. Mit zitternden Händen griff Schönemann nach
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