Das Erbe des Zitronenkraemers
Anne und Robin miteinander umgehen. Hannes hatte genug. Kurz angebunden verabschiedete er sich von den beiden und gab noch mürrisch bekannt, auf die Jagd gehen zu wollen.
Seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, die Waffe auf dem Schoß liegend, eine Decke über den Knien saß Hannes im Hochsitz. Er atmete tief durch, hier konnte er abschalten. Seine Hündin Paula hatte er im Auto gelassen. Er wollte nicht jagen. Er wollte nur dasitzen und nachdenken. Vielleicht ein paar Säue beobachten, einfach nur Ruhe finden. Kein Handy, keine Polizei, keine Anne, kein Mörder. Hannes lehnte sich entspannt zurück.
*
Anne genoss die heiße Dusche, die sie von ihrem Ärger mit Hannes ablenkte. Wieder einmal hatte er es fertiggebracht. Was sollte dieser Auftritt vorhin im Stall? Monatelang hat er sich null für meine Pferde interessiert, und dann soll ich alles stehen und liegen lassen, nur weil er sich einmal bequemt dort aufzutauchen?
Anne ärgerte sich über sich selbst. Sie drehte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und griff sich ein Handtuch. Langsam trocknete sie sich ab. Ein unbestimmtes Gefühl kam in ihr hoch. Sie wollte nicht hier sein, hier in seinem Haus. Anne fühlte sich unwohl so allein, selbst Paula war nicht daheim. Anne zog einen kuscheligen Schlafanzug an und verließ das Bad.
Draußen war es mittlerweile dunkel geworden, nass und ungemütlich. Immer heftigere Windböen pfiffen ums Haus und ließen Bäume und Büsche hin und her schwanken. Sie ging ins Wohnzimmer und schloss das Fenster. Anne konnte sich kaum vorstellen, dass Hannes noch lange auf seinem Hochsitz ausharren würde. Sie beschloss, eine Kleinigkeit zum Essen vorzubereiten, da sie mit Hannes‘ baldiger Heimkehr rechnete. Anne verspürte nun keine Lust mehr, länger zu streiten.
*
Ruckartig wollte er aufspringen, doch der raue Strick um seinen Hals hinderte ihn daran, die scharfe Klinge an seiner Kehle schnitt fast in sein Fleisch. „Endlich hab ich dich“, hörte er die flüsternde Stimme sprechen.
Er musste eingeschlafen sein. Aber nun träumte er nicht mehr. Hannes spürte den Hochsitz im Sturm gefährlich schwanken. Er konnte sich nicht rühren, so lähmte ihn seine Angst. Laut schluckend fühlte er das Messer am Hals.
Er unternahm den Versuch, den Kopf zu drehen, um sehen zu können, wer da hinter ihm saß. Der schmerzhafte Ruck am Strick belehrte ihn eines Besseren; der unangenehme Druck auf seinem Kehlkopf ließ ihn seinen Kopf dabehalten, wo er war; starr geradeaus gerichtet.
„Warum wollen Sie mich umbringen?“, brachte Hannes krächzend hervor. „Oh, ich will Sie nicht umbringen“, meinte sein Besucher fast fröhlich. „Ich habe da eine viel bessere Idee: Das werden Sie selbst erledigen.“
Hannes schluckte erneut. „Warum sollte ich das tun?“
„Keine Sorge, die Nachwelt wird wissen, warum“, der Mann schob ihm einen Umschlag in die Manteltasche. „Ihr Abschiedsbrief“, erklärte er ungefragt.
Dann stieg Hannes plötzlich ein bekannter Duft in die Nase. Annes Parfum. Der Unbekannte hielt ihm ein Tuch vor die Nase. Er blinzelte und erkannte das Halstuch von Anne.
Die Angst umklammerte sein Herz wie eine Kralle.
„Keine Sorge“, erwiderte der Mann, „ deine Anne ist meine Giulia, und sie wird zukünftig dort sein, wo sie hingehört. Sie hat mir ihr Halstuch geschenkt, als Beweis ihrer Liebe. Und bald, sehr bald, werde ich sie zu mir nehmen, denn du wirst mir nicht länger im Wege sein.“
Damit stieß er Hannes den Hochsitz herunter. Alles passierte derart unvermittelt, dass er nicht einmal mehr die Zeit zum Schreien fand. Sein freier Fall wurde noch vorher abgefangen. Die mächtigen Äste einer großen Tanne scheuerten an seinem Körper. Er glaubte sogar, unter seinen Füßen einen der Äste gefühlt zu haben.
Doch mit einem entsetzlichen Ruck zog sich der Strick um seinen Hals zusammen. Hannes meinte, sein Kehlkopf müsse jeden Augenblick zerbersten. Instinktiv ließ er die Arme nach oben schnellen und griff den Strick mit verkrampften Händen. Er merkte, wie er hin und her baumelte. Verzweifelt versuchte er, seine Beine ruhig zu halten, aber er konnte nicht. Zappelnd und zitternd registrierte er, wie seine Zunge aus dem Mund quoll, seine Augen zu platzen drohten. Verschwommen nahm er noch einen Schatten wahr, der die Hochsitzleiter herunterhuschte und in der Dunkelheit verschwand. „Anne“, hauchte Hannes mit letzter Kraft, vermeinte noch zu spüren, vom dichten Geäst des Baumes gehalten zu werden.
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