Das Erbe in den Highlands
löste sie ihre Finger vom Riegel. Dann folgte sie ihrem Butler durch den Rittersaal in die Küche, setzte sich und wartete. Sie sah Worthington zu, wie er Wasser aufsetzte, den Tee ziehen ließ, dann einen ordentlichen Schuss Brandy dazugoss, war aber nicht bei der Sache. Alles, was sie vor sich sah, war der blutverschmierte Unhold von oben, der mit Todesdrohung in den Augen auf sie losgegangen war. Geistesabwesend leerte sie die Tasse, die Worthington ihr hingestellt hatte, dann schnappte sie nach Luft und hustete, da ihr die Kehle brannte.
»Mehr«, krächzte sie. Hauptsache, es half ihr zu vergessen.
Zwei Tassen später ging es ihr schon viel besser. Und sie kam sich etwas kindisch vor. Gespenster gab es nicht. Das war nur ihrer Phantasie entsprungen, die schließlich sehr bildhaft war. Und was hatte sie gerade gelesen? Die Nacht der blutigen Unholde. Kein Wunder, dass sie einen Schrecken bekommen hatte.
»Ich bringe Sie in Ihr Zimmer«, erbot sich Worthington.
»Danke.« Genevieve lächelte, doch es war ein schwaches Lächeln. Mutige Sprüche und mutige Taten waren zwei vollkommen verschiedene Dinge.
»Ich glaube, wir sollten einen Schreiner kommen lassen«, fuhr sie fort, während sie sich zwang, die Küche zu verlassen. »In dem Zimmer zieht es.«
»Sehr wohl«, nickte Worthington.
Genevieve ging mit ihm die Treppe hinauf und den Korridor entlang zu ihrem Zimmer. Nein, sie wollte nicht dorthin zurück, aber was sollte sie sonst machen? Ihrem Butler erzählen, sie hätte gerade ein Gespenst gesehen und ihn fragen, ob er so nett wäre, sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett zu setzen und Leibwächter zu spielen? Durch ihre lächerliche Flucht nach unten kam sich Genevieve schon töricht genug vor. Sie wollte nicht noch dümmer dastehen.
Nach kurzem Zögern stieß sie die Tür auf und spähte ins Zimmer. Leer. Ein erleichterter Seufzer entschlüpfte ihr.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Mylady.«
»Ebenfalls«, erwiderte Genevieve und verharrte an der Tür. Der Gedanke, allein zu sein, erschien ihr nicht im Mindesten reizvoll. »Worthington ...«
»Hier sind Sie sicher«, beruhigte Worthington sie. »Vollkommen sicher. Schlaf ist es, was Sie brauchen, Mylady. Jetlag macht dem Körper schwer zu schaffen.«
Das hatte sie hören wollen. Sicherlich hatte er recht. Jetlag hatte die Halluzinationen verursacht. Sie lächelte, schloss die Tür und ging zum Bett. Das Zimmer sah völlig normal aus. Die Kerze auf dem Nachttisch leuchtete so hell wie zuvor und tauchte den Raum in sanftes Licht. Ein Blick in die Runde - ein flüchtiger natürlich - ließ erkennen, dass sich alles noch an Ort und Stelle befand.
Genevieve kroch ins Bett, kuschelte sich ein und zog das Deckbett bis zu den Ohren hoch. Vollkommen sicher. Nichts befand sich im Zimmer, außer den Möbeln und ihrer Phantasie.
»Ich bin absolut sicher«, verkündete sie laut. »Mir kann nichts passieren.«
Die Kerzenflamme auf dem Nachttisch ging plötzlich von selbst aus.
»Sei dir da nicht so sicher, Weib.«
Genevieve schrie auf und zog sich die Decke über den
Kopf. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und betete um schlagartige Bewusstlosigkeit.
Die tiefe Stimme hallte in ihrem Kopf nach und ließ sie nicht vergessen, dass auf der anderen Seite der Daunendecke, die sie wie ein Schutzschild über ihren Kopf hielt, noch etwas anderes außer Möbeln war. Was auch immer sich da draußen befand, es war groß, blutverschmiert und aufgebracht.
Und es wollte ihren Tod.
4
Genevieve wachte auf und rang nach Luft. Sie rührte sich nicht. Als sie nichts außer ihrem eigenen Herzschlag vernahm, bewegte sie zaghaft die Finger ihrer rechten Hand. Sie funktionierten. Genevieve verspürte keinerlei Schmerz von offenen Wunden, also konnte sie davon ausgehen, dass sie nicht kurz vor dem Verbluten war.
Er hatte sie also nicht ermordet. Wieso? Hatte der Unhold Mitleid mit ihr bekommen, oder wollte er sie derart erschrecken, dass sie einen Herzinfarkt erlitt? Das wäre glatter Menschenmord. Oder war es dann Unholdmord? Ihr gelang ein schwaches Lächeln über ihre eigene Gewitztheit. Zu dumm, dass die Menschheit nie von ihrem Geistesblitz erfahren würde, weil das Gespenst sicher darauf wartete, ihr Gesicht zu sehen, um ihr den Kopf abzuschlagen.
Oder spukte es nur nachts? So gehörte es sich doch für Gespenster, oder? Die Uhrzeit festzustellen war unmöglich, solange sie den Kopf nicht unter der Decke hervorstreckte, und dazu war sie noch nicht
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