Das Erbe in den Highlands
der Parierstange war in mittelalterlichen Lettern eingraviert:
ARTANE
»Das nächste Mal werde ich mein Ziel nicht verfehlen«, knurrte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Genevieve wirbelte herum und stieß dabei mit dem Ellbogen an die Sessellehne. Der scharfe Schmerz, der ihr durch den Musikantenknochen fuhr, war sofort vergessen bei dem erstaunlichen Anblick, der sich ihr bot.
Er war über einen Meter achtzig groß, brachte wohl an die hundert Kilo auf die Waage, und diese hundert Kilo waren von Kopf bis Fuß in einen undurchdringlichen
Kettenpanzer gehüllt. Die eine Hand lag um das Heft eines langen schweren Breitschwerts, die Spitze zum Boden gesenkt, während in seiner anderen Hand das Blatt einer Streitaxt im Schein des Feuers funkelte.
Vor ihr stand ihr Ritter.
Aber auch ihr Gespenst.
Sie wich an die Sessellehne zurück, Furcht kroch ihr vom Scheitel bis in die Knie. Nein, nicht seine Größe versetzte sie in Angst und Schrecken, auch nicht seine Rüstung oder gar seine Waffen.
Sondern der mörderische Ausdruck in seinen Augen.
»Hinfort, Weibsbild!«, brüllte er plötzlich und hob das Schwert über den Kopf.
Genevieve floh. Sie merkte nicht, in welche Richtung sie rannte, bis sie sich den Zeh an der untersten Stufe der Steintreppe anstieß. Nicht einmal der Schmerz ließ sie innehalten. Sie blinzelte die Tränen weg und krabbelte auf allen Vieren die Treppe hinauf.
Bis zum ersten Stock brauchte sie eine Ewigkeit. Als sie sah, dass die Lichter der Fackeln nur den Boden und die Wände beleuchteten, stöhnte sie vor Erleichterung auf. Er war ihr nicht gefolgt ...
»Bist du taub, Weib?«, herrschte sie eine körperlose Stimme zornig von hinten an. »Ich befehle dir zu verschwinden!«
Genevieve schrie auf, rappelte sich hoch und stolperte den Korridor hinunter. Plötzlich gingen die Lichter aus. Sie verlor die Orientierung und fiel zu Boden. Ein Luftzug strich über sie hinweg. Sie zog die Knie an, den Kopf ein und legte die Hände schützend auf ihren Nacken. Fast spürte sie dort schon den entsetzlich kalten Stahl, der durch Knochen und Sehnen drang und ihren Kopf vom Rumpf trennte.
Nichts geschah. Minutenlang hockte sie so da. Das Herz schlug wie wild in ihrer Brust, ihr Atem kam stoßweise, und sie wartete auf den Tod. Er kam nicht. Gar nichts kam. Keine Berührung, keine Wunde, kein Schmerz. Nichts.
Lieber Gott, verlor sie den Verstand? Sie hatte ihn doch gerade gesehen, oder nicht? Und er war ein Gespenst, nicht wahr? Langsam hob sie den Kopf und versuchte, die Schatten in der Düsternis zu ergründen, doch es gelang ihr nicht. Vorsichtig rutschte sie ein wenig nach rechts und streckte dabei die Hand aus, bis sie die Mauer spürte. Dann richtete sie sich langsam auf. Einige Minuten lang blieb sie an die Mauer gelehnt stehen und rang nach Luft. Wer wusste, wie lange ihr dieses Vergnügen noch vergönnt war?
Als sie keine anderen Atemgeräusche im Korridor vernahm, ging sie nach rechts weiter, weil sie wusste, dass dort ihr Zimmer lag.
»Hölle und Verdammnis, Frauenzimmer, das ist nicht der Weg zum Tor!«
Genevieve erstarrte, wartete auf das sprichwörtliche Singen der niedersausenden Klinge. Im Film sangen die Klingen immer; wahrscheinlich taten sie es im wirklichen Leben auch.
»Nach links, Demoiselle! Geht nach links!«
Jetzt war er wirklich verärgert.
»Ich kann nichts sehen«, flüsterte sie.
Die Lichter im Korridor gingen wieder an, und ihr blieb die Luft weg, als sie das Gespenst an der gegenüberliegenden Wand lehnen sah, die Arme über der mächtigen Brust verschränkt, eine tiefe Zornesfalte auf der Stirn. Du meine Güte, wie musste er andere eingeschüchtert haben, als er noch lebte! Er hob den rechten Arm und zeigte den Korridor entlang zur Treppe.
»Das ist die richtige Richtung.«
Genevieves Lippen weigerten sich, verständliche Laute hervorzubringen. Ihr Mund bewegte sich eine Weile tonlos, woraufhin sich die Miene ihres Gespensts noch mehr verfinsterte.
»Was?«, blaffte er.
Sie schluckte. Wieder die Treppe hinunter zu gehen, kam überhaupt nicht in Frage. Sie würde stürzen und sich den Hals brechen.
Plötzlich kam ihr eine Idee. »Können Sie auch durch verschlossene Türen gehen?«, stieß sie hervor, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Seine Brauen zogen sich so wütend zusammen, dass sie zu einer einzigen dunklen Linie wurden. »Mir will nicht einleuchten, was das damit zu tun hat.«
Die Antwort genügte ihr. Genevieve machte kehrt und rannte in die
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