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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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dichter und feiner, aber eben auch gefährlicher.«
    »Gefährlicher?«
    »Ja, du brauchst nur ganz wenig Tinte. Du brauchst die Feder nicht so oft einzutunken, aber der Anfang ist entscheidend. Und du musst das Löschpapier zur Hand haben.«
    Der Vater lächelte, und Mogens vergaß, dass er sich darauf gefreut hatte, zu seiner Mutter zu laufen. Er hätte mit Freude tagelang hier sitzen können. Und plötzlich taten ihm seine Brüder Leid, die das alles nicht erleben durften.
    »Warum lernen die anderen das nicht?«, fragte er.
    Der Vater antwortete nicht sofort. Es sah zuerst aus, als habe er die Frage gar nicht gehört, doch dann sagte er: »Weil du es am besten kannst. Glaubt dein Vater zu wissen. Und jetzt reden wir nicht mehr darüber. Versuch es jetzt auf dem weißen.«
    Mogens hätte gern auf der ersten Seite in einem der neuen Schreibhefte angefangen, aber ihm ging auf, dass er ein weiteres Mal seine Fähigkeiten überschätzt hatte, als sich eine neue feuchte Blume auf dem Papier ausbreitete. Er musterte sie mit funkelnden Augen, ohne sich dieser Niederlage zu schämen, denn diesmal gab der weiße Hintergrund dem prachtvollen Preußischblau der Tinte freies Spiel. Diese Farbe war blauer als Himmel und Meer. Sie hatte ein wenig Ähnlichkeit mit einem
klaren Himmel an einem frühen Herbstabend mit Vollmond, war auf dem Papier unglaublicherweise schöner als in der Natur.
    »Sieh mal«, sagte Mogens. »Ist das nicht schön?«
    »Nein«, erwiderte der Vater mit scharfer, sehr scharfer Stimme. »Das ist nicht schön. Das da, das ist ein Tintenfleck. Und ein Tintenfleck ist nicht schön, wenn er etwas ganz anderes sein sollte, zum Beispiel dein Name. Roll mit dem Löschpapier darüber. Das musst du gleichmäßig und vorsichtig machen, damit der hässliche Fleck nicht noch weiter verrieben wird.«
    Mogens packte die blanke Kugel oben auf der Löschrolle und bewegte sie dann langsam hin und her. Die erste Grenze war gezogen, der erste Wermutstropfen in seiner Freude. Aber die Enttäuschung musste bald der neuen Begeisterung über einen wohlgeformten Buchstaben weichen. Und als der Vater auf die Uhr schaute und den ersten Schultag für beendet erklärte, wollte Mogens das nicht für möglich halten. Er hatte es immerhin geschafft, dass auf der Vorderseite des einen Schreibheftes sein vollständiger Name stand. Das Löschpapier hatte die ersten drei Buchstaben verzerrt, sie standen sozusagen ein wenig ängstlich und doppelt da und zitterten wie im Frost, aber der Vater war zufrieden.
    »Nimmt man nicht auch Sand? Auf der Tinte? Und pustet den Sand dann weg?«, fragte Mogens.
    »Ja, das würde ich auch gern tun, aber deine Mutter will keinen Sand auf dem Boden haben. Sie sagt, in Paullund gibt es schon genug davon, man braucht ihn nicht auch noch in Dosen zu kaufen und in die Luft zu blasen.«
    Sie tauschten ein rasches Lächeln.
    »Und jetzt ziehst du die Feder heraus und wäschst sie«, sagte der Vater dann. »Und das Tintenfass muss verschlossen werden. Und dann legst du deine Sachen hier in dieses Fach.«
    Er zeigte auf ein kleines Fach in seinem Schreibtisch, das er für den Sohn frei geräumt hatte. Deine Sachen. Mogens konnte es nicht erwarten, das alles seiner Mutter zu erzählen, und er wollte
schon ins Wohnzimmer stürzen. Aber als er vom Hocker glitt und sich aufrichtete, jammerte er plötzlich.
    »Was ist los?«, fragte der Vater erschrocken, er war immer auf der Hut, wenn es um die Gesundheit des Sohnes ging.
    »Es ist nur ... irgendwie überall.«
    Sein Nacken tat weh, seine Schultern taten weh. Er konnte kaum die Feder aus den verkrampften Fingern lösen. Und sein Gesäß hatte jegliches Gefühl verloren.
    »Du hast dich einfach nur angestrengt«, sagte der Vater erleichtert und lächelte. »Du hast zwei Stunden lang dagesessen wie eine gespannte Bogensehne. Das legt sich. Du warst fleißig.«

    Als Mogens danach der Mutter alles erzählte, was passiert war, verbreitete er sich trotzdem vor allem über die blaue Farbe der Tinte. Womit sie Ähnlichkeit habe. Er war außer Hörweite des Vaters. Und die Mutter teilte seine Freude und lachte mit ihm. Sie zog ihn an sich und drückte sein Gesicht an ihren Hals.

I n den Büchern gab es keine Zeichnungen. Nicht eine einzige. Das dicke Buch war Madvigs Lateinische Sprachlehre für den Schulgebrauch. Das dünne war Birchs Biblische Geschichte, und Mogens hatte die Bibel bisher immer mit Zeichnungen verbunden. Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als

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