Das Erbstueck
die Bücher ihm nach einigen Tagen mit Schreibübungen endlich zugeschoben wurden. Er blätterte mehrere Male hin und her, dann seufzte er und klappte sie zu.
»Das hier sollst du mir laut vorlesen«, sagte der Vater und zeigte auf Birch. »Und dann reicht es vollständig, wenn du den Buchstaben folgst, Bilder brauchst du gar nicht. Lies mir die kleinen Buchstaben auf der ersten Seite vor.«
Mogens öffnete das Buch wieder. »Für Kinder, vor allem auf dem Lande, mit geringen Fähigkeiten und wenig Schulgang.«
»Ich wollte nur, dass du das siehst. Du lebst auf dem Lande und hast gar keinen Schulgang, aber deine Fähigkeiten sind nicht gering, sondern sehr gut. Dieses Buch gehen wir zusammen durch, Wort für Wort, und später wirst du dann Gottes Wort in seiner Vollkommenheit besser verstehen. Wir beginnen mit der Erschaffung der Welt und enden mit der Zerstörung Jerusalems. Das hier ist eine stark verkürzte Ausgabe.«
Ja, das war klar. Das hier war ein dünner Fetzen von Buch, während die Bibel des Vaters tausende von hauchdünnen Blättern mit winzigen Buchstaben aufwies.
»Aber es gehört dir. Schreib deinen Namen hinein.«
Mogens strahlte. Her mit Tinte und Federhalter und Feder, eintunken und sorgfältig schreiben. Damit war er volle zehn Minuten beschäftigt.
Die gotischen Buchstaben waren viel schöner als die Schreibschrift, die er bisher geübt hatte. Er wollte gern lernen, auch diese Buchstaben zu schreiben, aber der Vater sagte nein, nicht in diesem Zimmer. Dann müsste er sich mit Kohlestift und grauem Papier in die Küche setzen. Aber mit Kohlestift war das unmöglich. Er brauchte doch eine Feder, um die kleinen Spitzen und Zacken und Schnörkel zu schaffen.
»Du brauchst das nicht zu lernen«, sagte der Vater. »Das ist das gedruckte Wort. Und nicht das, was man selber schreibt, jetzt nicht mehr.«
Sogar wenn Mogens laut aus der kleinen Bibelgeschichte vorlas, ertappte er sich dabei, dass er die Buchstaben bewunderte und dabei die Wörter durcheinander warf. Zugleich war es spannend, sich den Text anzueignen. Denn zum ersten Mal erreichte er den Zusammenhang, sah ein Ganzes. Er las über Kain, der Abel erschlug, über Loths törichte Frau, die Gut und Gold nicht verlassen wollte, über Jakob, der sich auf einem Stein schlafen legte und von einer Leiter träumte, die in den Himmel führte, und bei der jede Sprosse von Engeln umflogen wurde, über die Reise nach Ägypten und was es damit auf sich hatte, dass Menschen fast verhungert wären und sich dann dort niederließen; dass der Befehl erteilt wurde, neugeborene Knaben zu töten, sie sollten in den Nilstrom geworfen werden. Das passierte auch Mose, in einem Korb, den die Mutter geflochten hatte, worauf die Tochter des Pharao ihn fand und in den Wissenschaften der Ägypter unterrichten ließ, das war eine fabelhafte Geschichte.
»War der Nilstrom groß und breit, mein Vater?«
»Der ist noch immer vorhanden. Und er ist sehr breit.«
»Kann man einen Stein auf das andere Ufer werfen?«
»Nein.«
»Kann man hinüberschwimmen?«
»Du nicht. Außerdem gibt es dort Krokodile. Die Menschen fressen.«
»Ich würde gern so ein Krokodil sehen.«
Der Vater räusperte sich energisch. »Jetzt halten wir uns an die Geschichte, an ihren Inhalt. Und lassen den Nilstrom seiner Wege fließen.«
»Ja, mein Vater.«
»Sie gehorchte Gott und nicht den Menschen, so dachte die Mutter Mose«, sagte der Vater.
»Muss man das immer?«, fragte Mogens. »Nicht auf die Menschen hören, wenn man glaubt, dass sie sich irren?«
»Nur wenn du Gott in deinem Herzen trägst und Seine Worte kennst, denn dann weißt du den Unterschied zwischen richtig und falsch. Und dann kannst du menschlichen Geboten den Rücken kehren.«
»Geboten? Wie den Zehn Geboten?«
»Ja.«
»Aber das weiß man doch? Das, was die Gebote sagen? Das versteht man doch von selbst. Dass man nicht lügen oder Leute umbringen darf? Und dass es nur einen Gott gibt?«
Mogens fand es sogar seltsam, das Wort Gott in der Mehrzahl zu sehen, so überzeugt war er von der Richtigkeit des Ersten Gebotes.
Der Vater ging zum Fenster und kehrte ihm den Rücken zu, um sein Lächeln zu verbergen. Ohne es zu wissen, rührte Mogens oft an die großen theologischen Fragen. Aber wie sollte er das erklären? Einem Kind?
»Die Gebote gelten nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man denkt. Aber die guten Gedanken, unsere Ideale, die sind Gottes Wille in uns«, sagte er, ohne sich
Weitere Kostenlose Bücher