Das Erbstueck
unterwiesen worden. Hier hatte Mogens auch eine Menge aufgeschnappt, vermutlich ebenso viel wie die anderen. Und alle hatten sich die Bilderbibel ansehen dürfen.
Christina hatte auch vorgelesen, unbegreifliche und unheimliche Geschichten, die zugleich schön waren, zwischen den Wörtern, deren Bedeutung sie nicht ahnten. Die Höhepunkte für Mogens waren die Zeichnungen, nicht die Wörter, er musterte die armen Menschen, die nur in Decken gehüllt aus Ägypten fliehen mussten, und er sah nackte Kinder und Engel, die im Bildrahmen umhersprangen, während Jesus Aussätzige heilte oder mit weißem, stacheligem Feuerkranz um den Kopf im Tempel lehrte. Er konnte eine Geschichte nicht von der anderen unterscheiden. Er verschlang einfach nur die Bilder mit den Augen. Das Allerbeste war Jesu Kreuzigung auf Golgatha, der Schädelstätte, allein schon der Name! Er sah das Bild noch Stunden später vor sich. Er konnte den Wind auf dem Felsen spüren, auf dem die Kreuze aufgerichtet worden waren, wenn das Lendentuch um Jesu Hüften peitschte und sein Mund in einem schrecklichen Schrei kohlschwarz wurde und die Soldaten um das Kreuz herum saßen und um sein Gewand würfelten, während die Armen unten in der rechten Bildecke weinten. Auf dem Bild wuchsen Blumen, wie er sie noch nie gesehen hatte, und jemand hatte eine Leiter zu Boden fallen lassen. Er hätte gern gewusst, wozu sie die benutzt hatten. Vielleicht um Jesus den in Essig getunkten Schwamm an die Lippen zu halten? Und danach hatten sie die Leiter hingeworfen? Jesus hing ja ziemlich hoch oben. Vom Boden aus konnte man nicht einmal seine Zehen
erreichen. Auch die Menschen auf diesem Bild waren in Decken gehüllt. Er hatte seine Mutter gefragt, warum sie nicht normal gekleidet waren, und die hatte erklärt, es sei zu warm für normale Kleidung, bei Kitteln und weiten Umhängen jedoch könne man selber entscheiden, wie lose die um den Körper sitzen sollten. Diese Antwort sagte ihm nichts, denn Kittel und Umhänge schienen aus dickem Stoff zu sein. Aber es war ja auch nicht Paullund. Es gab so viel, was er nicht verstand, und seine Brüder stellten nie irgendwelche Fragen. Die Bibel blieb für ihn deshalb eine Sammlung von zusammenhanglosen Bruchstücken, ohne dass er einen echten Drang verspürte, sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Es reichte, hinter der rechten Schulter der Mutter zu stehen und sich in die Zeichnungen zu versenken, während sie vorlas.
Aber jetzt würde er im Studierzimmer des Vaters sitzen. Und weiter unterrichtet werden. Während die anderen jede zweite Woche zu Lehrer Prebensen gingen und lernten, wie man in einem Ofen Feuer macht und ausrechnet, wie viele Bund Stroh für ein Dach benötigt werden.
Christina konnte sehr gut verstehen, warum Carl Mogens unterrichten wollte. Carl Markus fuhr schon jeden Morgen mit den Fischern hinaus und ging nicht mehr zu Lehrer Prebensen.
»Sei nicht traurig, Mutter.«
»Das bin ich nicht.«
»Ich werde ganz viel lernen und tüchtig werden und dir eine ganze Tüte voll Stickgarn kaufen. Und vielleicht ein Kleid. Ein rotes.«
»Ein rotes Kleid? Mogens, mein Junge, ich glaube, du warst zu lange in der Sonne. Hilf mir lieber beim Mandelnschälen. Machst du das?«
Er legte seine Hand in ihre, in die linke. Die rechte hing an seiner Seite hinunter. Er spreizte die Finger und ballte dann eine Faust.
Die würde bald schreiben, Buchstaben zeichnen dürfen. Ganz richtig. Statt im Sand zu zeichnen und zu schreiben und die Wellen zuschnappen zu lassen, wenn die Flut kam.
C arl Thygesen war auf die Enttäuschungen nicht vorbereitet, die sein fünfter Sohn ihm bereiten sollte. Der Junge hatte Geist, weit über Fischerei und Landwirtschaft hinaus, daran konnte es keine Zweifel geben. Aber dass seine Frau sich dermaßen an diesen einen Sohn verlor ...
Seit der Geburt des Jungen hatte er höchstens eine Hand voll Mal zu ihr kommen dürfen. Es tat ihr weh, und sie weinte; und das machte ihm zu schaffen. Die Geburt hatte im wahrsten Sinne des Wortes tiefe Spuren hinterlassen. Darin sah zumindest er die Ursache der Schmerzen. Sie sprachen nicht darüber. Und schwanger wurde sie nicht mehr, obwohl er trotz ihrer Schmerzen und ihres Jammerns seine ehelichen Pflichten erfüllt hatte.
Er wusste, dass ihre Liebe zu Mogens unfassbar war und an das Gefährliche grenzte. Er wusste von dem Damastbündel in der Strohmatratze, mit den Steinen und den Muscheln, aber darüber sagte er kein Wort zu ihr. Er wusste von den
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