Das Erbstueck
ausgewählt. Jakobine sollte den Unterricht zusammen mit ihm besuchen. Das beunruhigte ihn sehr. Er wollte sich so weit fort von ihr wie überhaupt nur möglich setzen.
Doch dann wurde die Mutter bettlägerig, an einem kurzen halb dunklen Nachmittag einige Wochen nach Neujahr.
Zwei Bauern aus Paullund waren nach nur zwei Krankheitstagen gestorben. Niemand wusste so recht, woran, aber es war die Rede von einer Art Entzündung im Kopf. Alle hatten Angst, und die Mutter hatte ihnen mehrere Male Tee und gereinigten Teer gebracht, mit denen sie sich die Schläfen einreiben konnten. Sie litten offenbar unter dermaßen entsetzlichen Kopfschmerzen, dass sie davon ohnmächtig wurden.
»Alles da drinnen scheint sich aus den Augenhöhlen und den Ohren pressen zu wollen, die Stirn steht kurz vor dem Bersten«, sagte die Mutter über einen der Kranken, als sie ihr Tuch ablegte und wieder zu Hause war, an dem Tag, an dem auch sie erkrankte.
Der Wind trug Schnee mit sich und näherte sich der Stärke eines Sturms. Das Meer war grau und zeigte am Horizont eine weiße Kante, die den Übergang zwischen Himmel und Wasser zu verwischen
schien. Schaumfetzen lösten sich von den Wellen und flogen dahin wie Vögel. Der Strandhafer lag platt auf dem Rücken. Die Strohdächer kniffen die Häuser zusammen, und die Steinmauern standen schwarzfeucht und uneben da und hielten die Ställe fest. Die Tiere wurden hereingeholt. Wie die Vögel die Schwingen ausstreckten und ihre Jungen um sich sammelten, so strebten Tiere und Menschen zueinander. Das böse Wetter war über ihnen, und sie dankten dem Herrn, weil keiner von ihnen draußen auf dem Meer war. Innerhalb weniger Stunden wurde es der Mutter schlecht, sie wurde leichenblass, fasste sich an den Kopf, hatte rote, schuppige Flecken an den Armen.
Am nächsten Tag lag die Mutter ganz still in ihrer Kammer. Sie hörten ihre Stimme nicht. Keiner der Brüder durfte zu ihr. Das war nur dem Vater und Elise erlaubt. Elise kochte Kamillentee und brachte ihn mit einem Trichter ans Krankenbett. Der Dampf sollte der Mutter in die Gehörgänge geleitet werden. Elise machte Rüböl heiß und gab es teelöffelweise in die Ohren der Kranken. Sie rieb ihre Schläfen mit gereinigtem Teer ein. Sie gab ihr zu trinken. Sie flüsterte ihr zu, aber sie bekam keine Antwort, und sie wischte sich die Tränen ab, ehe sie wieder in die Küche kam.
Mogens fand diese vielen Aktivitäten ein wenig beruhigend, es war gut, dass Elise in der Kammer so viel zu tun hatte. Er brachte die Krankheit der Mutter nicht sofort mit den toten Bauern in Verbindung. Außerdem kam der Vater ihm ruhig und gefasst vor. Mogens überwachte jede Bewegung seines Gesichts und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
Die Mutter war nie bettlägerig gewesen, soweit Mogens sich zurückerinnern konnte. Die Brüder hatten ihre Kindbetten miterlebt, Mogens war auch dafür zu spät geboren.
»Ich möchte so gern zu meiner Mutter«, sagte er am zweiten Abend ihrer Krankheit.
»Nein«, sagte der Vater. »Sie schläft.«
»Ich kann warten, bis sie aufwacht.«
»Sie hat Fieber. Sie darf nicht gestört werden. Der Arzt kommt heute Abend.«
Elise bereitete einen Essigumschlag vor und trug ihn ins Krankenzimmer. Die Brüder saßen auf der Küchenbank. Es war so beunruhigend still im Zimmer, jetzt, wo sie nicht damit rechnen konnten, die Stimme ihrer Mutter zu hören. Im Studierzimmer tickte die Uhr des Vaters. Der Torf atmete im Ofen leise und zischend. Der Wind heulte, und alle warteten und horchten.
Der Arzt traf bis auf die Haut durchnässt ein, mit weißen Schneeflocken auf dem Friesmantel. Er war alt und mager und hatte eine große, beruhigende Tasche bei sich. Er lächelte nicht, nickte dem Vater nur kurz zu. Plötzlich wusste Mogens, dass seine Mutter sterben würde.
In dieser Nacht wurden sie geweckt.
Elise hatte die Schürze vors Gesicht geschlagen und sagte, sie müssten kommen.
»Ihr sollt euch von eurer Mutter verabschieden, Kinder.«
Über ihrer Stirn lag ein weißes Tuch, das einen scharfen Essiggestank abgab. Ihre Schläfen waren schwarz und blank. Im Zimmer stank es nach Schweiß. Mogens erkannte den Geruch von Angstschweiß und Tränen. Er zitterte. Frode weinte leise, Elise schluchzte, und der Vater ... der Vater betete. Elise betete. Mogens hörte auch das Gemurmel der Brüder.
Er wollte den Vater nicht ansehen. Denn der Herr untersuchet alle Herzen und kennet alle Gedanken. Wenn er Gott nicht den Rücken gekehrt
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