Das Erbstueck
hier am Tisch saß und Tinte und weißes Papier vergeudete.
»Du willst nach Malding, auf die Schule«, sagte der Vater. Wie ein plötzlicher Sonnenstrahl aus grauem Himmel. Zuerst Freude, danach Angst. Er konnte zu wenig. Er wusste, dass dort auch Mathematik und Physik und Deutsch und Französisch unterrichtet wurden, und so weit war der Vater nicht gekommen, oder vielleicht lagen diese Fächer ihm auch nicht. Weiter konnte er dann nicht mehr denken, denn die Mutter brach in trockenes Schluchzen aus, und der Vater erschrak dermaßen, dass ihm die Bibel auf den Boden fiel.
Elise hatte ihm den Rücken gekehrt und drehte sich um. Mogens atmete nicht. Er starrte in das kantige graue Gesicht der Mutter, in ihren Mund. Die Zunge zitterte wie der Inhalt einer plötzlich geöffneten Muschel. Der Vater hob die Bibel hoch, mit einer hilflosen, unbeholfenen Hüftbewegung.
»Aber Christina ...« In der Stimme des Vaters lagen ein Flehen und ein Gebet. Die Mutter wiegte sich auf ihrem Hocker hin und her, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie presste die Schultern vor, bis sie noch kleiner wurde, als sie wirklich war. Die beiden hinteren Beine des Hockers schlugen gegen den Boden. Bald würde er umkippen. Der Vater legte den Arm um sie, wollte ihre Hände von ihrem Gesicht wegziehen.
»Das tu ich nicht, meine Mutter! Ich tue es nicht! Ich gehe nicht weg von dir!«, rief Mogens. Er stürzte zu ihr und wollte ebenfalls die Arme um sie legen, doch der Blick des Vaters hielt ihn zurück. Der war kalt und schmal, gebieterisch. Es war Probst Thygesens Blick, nicht der eines Vaters.
»Ich will das eben nicht«, flüsterte Mogens. »Ich will etwas anderes. Du kannst das nicht bestimmen.«
Das Schluchzen der Mutter war verstummt. Sie schluckte mehrere Male und hob dann die Schürze an ihr Gesicht. »Entschuldigung« , sagte sie in das Blauzeug. »Entschuldigung.«
Der Vater ließ sie los, setzte sich wieder. Mogens blieb hilflos mitten im Raum stehen.
»Und was kannst du bestimmen? Was glaubst du?«, fragte der Vater.
»Ich bin fast dreizehn.«
»Ha !« Der Vater schlug die Bibel wieder auf, aber Mogens sah, dass er die richtige Seite nicht fand und nur so tat, als lese er weiter.
»Ich kann Herrn Prebensen helfen«, sagte Mogens.
Der Gedanke war ihm in dem Moment gekommen, in dem er ihn ausgesprochen hatte. Er war ihm vollständig neu. In Lehrer Prebensens Schulstube fiel nur selten ein lateinisches Wort. Der
ganze Vorschlag müsste an seiner eigenen Unbilligkeit scheitern, aber die Mutter starrte ihn aus großen, feuchten Fischaugen an. Der Vater schwieg.
»Vorläufig«, sagte Mogens. »Bis ... bis meine Mutter wieder froh ist.«
Die Mutter sprang auf und fiel ihm um den Hals. Endlich weinte sie richtig, es war nicht dieses unheimliche trockene Schluchzen, und er wusste, dass er seinen Vater besiegt hatte. Und da wollte er doch Lehrer Prebensen gern mit in Kauf nehmen.
Er ging am nächsten Tag nach dem Unterricht hin. Prebensen lag auf der Ausklappbank in einer engen Küche über der Schulstube und zog mit geschlossenen Augen an seiner langen Pfeife. Mogens gefiel der Geruch, und er hielt das für einen guten Anfang. Er wollte mutig und erwachsen erscheinen. Es ging um seine Mutter.
»Brauchen Sie einen Hilfslehrer?«, fragte er, nachdem Verbeugungen und Höflichkeitsfloskeln erledigt waren.
Lehrer Prebensen war ein alter, müder Mann. Er setzte sich mühsam auf, fand unter dem Tisch seine Holzschuhe, starrte den aufgeschossenen dünnen, weißhaarigen Pastorensohn aus rot unterlaufenen Augen an, und der registrierte, dass der Mund des Lehrers nicht nur nach Kaffee roch, als Prebensen fragte:
»Und was kannst du?«
»Latein und Griechisch. Und noch allerlei. Und natürlich die biblische Geschichte.«
»Ja, das wäre ja auch noch schöner. Und Latein und Griechisch musst du ja wohl auch können, da ich dich nie in meiner Schulstube gesehen habe, und bei dir zu Hause müsst ihr ja irgendetwas studiert haben. Aber warum gehst du nicht auf die Schule in Malding? Du bist doch alt genug?«
Prebensen stolperte ein wenig über die Wörter, seine Nase war kugelrund und hatte schwarze Punkte in der glänzenden Haut, die Nase bedeckte sein halbes Gesicht.
»Meine Mutter ist so traurig, deshalb will ich bis nach der Konfirmation warten.«
»Dänische Grammatik«, sagte Prebensen.
»Na gut«, erwiderte Mogens. »Die ist vielleicht nicht so ganz anders als die lateinische.«
»Sie ist die lateinische. Nur die
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