Das Erbstueck
hätte, dann wäre das hier nicht passiert. Peter trat vor das Bett.
»Du darfst sie nicht berühren, mein Sohn, du könntest dich anstecken«, flüsterte der Vater.
Christina Sol starb ohne einen Laut, ganz anders, als sie gelebt hatte. Sie trat bewusstlos in den Tod ein, ohne Krämpfe oder Schreie. Im Todesaugenblick öffneten sich ihre Hände, sie blieben leer und mit der Handfläche nach oben liegen. Der Vater fasste trotz seiner eigenen Ermahnungen die eine und schluchzte laut. Die andere Hand umklammerte die Bibel. Die Bibel war geschlossen. Und er sprach nicht laut zu Gott, jetzt nicht. Er sagte kein einziges Wort. Die Jungen standen nebeneinander da und starrten den Vater an, der vor dem Bett kniete. Sie hatten niemals dieses Zimmer betreten, in dem die Mutter sie, einen nach dem anderen, in die Welt gesetzt hatte. Über dem Bett war ein schlichtes Silberkreuz ohne leidenden Jesus befestigt. Das Kreuz war rein und voller Möglichkeiten, aber Mogens wusste es besser. Er spürte, wie Frode nach seiner Hand griff. Er ließ den Bruder gewähren. Er empfand keine Trauer, sondern nur ein Gefühl von Ende, Schluss. Wie dann, wenn er den Strand entlangging und die steilen Dünen erreichte und nicht weiter kam und kehrtmachen musste. Das hier war seine Schuld.
Später begriff Mogens nicht, wie eine ganze Woche hatte vergehen können, während die Mutter auf dem Leichenstroh lag und sie auf Probst Herlovsen warteten. Er wollte Jakobine nicht sehen, als sie mit frisch gebackenem Weizenbrot vor ihrer Tür stand. Er bat Frode, sie wegzuschicken.
Ansonsten wimmelte es im Haus nur so von Frauen. Sie putzten. Decke, Boden, Wände. Und gingen Elise aus dem Weg, als habe die sich angesteckt. Aber Elise hatte den Ernst der Lage durchschaut und Christina niemals direkt berührt. Sie hatte ihre Hände in Tücher gewickelt oder ihre eigenen Finger mit gereinigtem Teer bedeckt, als sie die andere eingerieben hatte. Und vor dem Probst hatten sie keine Angst. Geistliche starben nicht so einfach, nicht einmal an einer Krankheit. Das konnte nicht passieren. Gott hielt Seine schützende Hand über Seine Allernächsten.
Zwei Nächte lang zwang Mogens sich dazu, bei ihr zu sitzen. In der einen Nacht war er allein, in der anderen war Elise bei ihm. Er starrte ununterbrochen ihr Gesicht an, die Haare, die gefalteten Hände. Der Vater hatte es ihnen verboten, ihr geputzte Fünf örestücke auf die Augen zu legen, hatte gesagt, das werde er selber übernehmen. Ihre Augenlider glänzten, sie schienen feucht zu sein, als habe sie eben erst geweint. Die Augen schienen sich jeden Moment öffnen zu können, um zu fragen, was um Himmels willen er denn angerichtet habe.
Mogens saß mit geradem Rücken da und sprach weder mit seiner Mutter noch mit Gott oder mit Elise. Er saß einfach nur da und hörte zu, wie sein Blut durch seinen Körper strömte, wie sein Atem seine Lunge füllte und sie wieder verließ. Er roch die vielen mit Essig gefüllten Schalen, die im Zimmer auf dem Boden standen. Er horchte auf Wind und Meer und ließ seine Blicke an ihrem Profil entlangwandern, er musterte ihre Ohrläppchen und ihren Hals, die schöne Silberbrosche, die sie ihr angesteckt hatten, und die bewegungslose Wölbung der Brust. Er hätte gern so ruhig gesessen. Wie sie lag.
Die Träume waren für ihn das einzig Wirkliche. Die Träume von der Mutter und die Träume von Judas und Petrus. Lebendige, atmende Träume, die ihm eine grauenhafte Angst einjagten, und die ihn dazu trieben, mitten in der Nacht im beißenden Wind aus dem Fenster zu hängen, um atmen zu können. Er lauschte auf das Meer und fühlte sich eins mit all dem Sinnlosen, das das Meer symbolisierte: lebensgefährlich und ziellos, zur Wiederholung verdammt, unfähig zu lernen. Er wusste, dass Gott wusste. Beten war unnötig. Wichtiger waren Schande und Strafe und das Bedürfnis, sich leer zu spucken, an der Wand unter dem Fenster.
Er hatte überhaupt keinen Kontakt zu seinem Vater, er vermied es, mit ihm allein zu sein, und der Vater war zu sehr mit sich beschäftigt. Mogens wusste, er müsste ihm sagen, wem die Vorwürfe
gemacht werden sollten, wer an allem schuld war. Der Vater dürfte nicht nach eigenen Erklärungen suchen müssen.
»Sie wollte doch immer die Kranken besuchen«, sagte der Vater zu einer der putzenden Frauen, mit einem quengelnden und würdelosen Tonfall in der Stimme, als sei Christina selber schuld, dass sie sich angesteckt hatte. »Ihre Güte hat sie ums Leben
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