Das Erbstueck
Reliefs und Glas, Goldkanten und imitierten Edelsteinen.
Niemand konnte sich so langweilen wie Oma. Sie langweilte sich lauthals und dramatisch. Niemand sollte daran zweifeln, wie vergeudet ihr Leben ihr vorkam.
»Ich bin ein in einem goldenen Käfig gefangener Goldvogel. Hörst du, Mogens?«
Opa nickte, wenn er in der Nähe war.
»Warum gibt es hier nie mehr Feste?«
»Aber Malie, du kannst doch einladen, wen du willst«, sagte er leise.
»Die sind doch so langweilig! Das sind doch alles nur Menschen, die wir immer schon gekannt haben.«
»Dann lädst du eben Fremde ein.«
»Aaach, Mogens! Du hast doch keine Ahnung! Geh und spiel mit deinen Entwürfen !«
Dann hörte der Regen auf, und wir konnten zum Fort Kastrup gehen. Auf grünem feuchten Gras am Rand des Strandvei. Oma mit feuerrotem Lippenstift und Wut in den Mundwinkeln. Wenn sie an Männern vorbeikam, die in ihrem Alter oder jünger waren, dann lachte sie mir laut zu und schob ihren Busen vor. Ich lachte zurück und glaubte, sie lache, weil die Männer auf irgendeine Weise komisch wären, so wie die im Fernsehen.
Ich durfte mir am Kiosk beim Fort immer Eissorten kaufen, die es in Norwegen nicht gab. Abgesehen von dem einen Mal, als ich in Kopenhagen war, weil Mutter im Krankenhaus lag und die Eierstöcke entfernt bekam. Ich verbrachte drei Monate bei Oma, und sie hatte ihr Geld vergessen, als wir beim Kiosk ankamen. Ich brach in Tränen aus, als ich das Plakat sah, auf dem die verschiedenen Eissorten abgebildet waren, denn wir konnten keines kaufen. Sie sahen so spannend aus, dass ich sofort eins haben musste. Oma packte meinen Arm und bückte sich zu meinem
Gesicht herunter. Ich nahm den süßen Lippenstiftgeruch wahr, und sie sagte:
»Man bekommt nicht immer, was man sich wünscht. Man bekommt es so gut wie nie, und das wirst du auch noch erfahren, wenn du älter wirst.«
In meiner Erinnerung hat sie mich nur ein einziges Mal so hart angefahren. Wir liefen in feuchtem, dampfendem Gras durch das Fort, und wir sollten uns über die Sonne freuen, was wir jedoch nicht taten. Sie dachte an frohe und sorglose Feste, die es niemals geben würde, und ich dachte an Eissorten. Zu Hause lag Mutter mit ausgeraubtem Unterleib. Obwohl niemand mir erkl ären wollte, was Eierstöcke waren, und obwohl ich deshalb ziemlich verschrobene Vorstellungen von ihrem Aussehen hatte. Stöcke mit Eiern, in Mutters Bauch. Für lange Zeit weigerte ich mich danach sogar, Spiegeleier zu essen. Aber wenn ich mich an diesen Tag noch so gut erinnern kann, dann eigentlich nicht wegen ihres Wutausbruchs am Kiosk.
Wir kamen an zwei Männern vorbei, und Oma lachte laut. Das war nicht richtig. Sie war doch eben noch böse gewesen. Ich lachte nicht mit. Sondern fragte: »Flirtest du?«
Ob ich boshaft oder dumm war oder einfach einen Schuss ins Blaue abgegeben hatte, weiß ich nicht. Oma wirbelte herum und starrte mich an. Sie rang nach Atem. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr einer Goldohrring zitterte und schien zu leben. Sie starrte mich an, bis ich die Augen niederschlug.
»Schau mich an«, sagte Oma. »Sag, was du siehst.«
»Oma, ich sehe Oma«, erwiderte ich, nach einer Pause, in der ich nicht überlegt hatte, was ich sah, sondern, was ich sagen sollte.
Ich sehe Oma.
»Genau«, sagte sie. »Aber gerade darin irrst du dich, meine süße, kleine Therese.«
Man kann die Welt in sichtbare und unsichtbare Menschen einteilen. Das habe ich von ihr gelernt. Opa war unsichtbar. Unsichtbare Menschen waren belanglos. Das habe ich nicht von ihr gelernt. Das begriff ich ganz von selber, nach der Art, wie sie ihn behandelte. Sie konnte nicht ertragen, dass er ihr widersprach.
Bei mir jedoch lobte sie den Ungehorsam.
»Du musst existieren«, sagte sie. »Und das andere sehen lassen! Lass sie denken, was sie wollen, aber du musst existieren! Die, die dich verachten, gehen an ihrer jämmerlichen Unsichtbarkeit zu Grunde!«
Opa Mogens war ungewöhnlich unsichtbar. Ein bleicher, sanfter Mann mit runder Brille, der draußen eine Baskenmütze trug und eine ausgebeulte Tasche hatte. Wenn er meine Haare streichelte, dann konnte ich diese Berührung gerade noch ahnen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal lachen hören, und selbst dieses Lachen ist mir bloß erzählt worden. Ich war zu klein, um mich daran erinnern zu können, höchstens zweieinhalb. Ich warf seinen Wecker ins Klo, und der fing sofort an zu klingeln. Und Opa lachte offenbar so herzhaft, dass seine Brille beschlug und seine
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