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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Nase hinunterrutschte und er rief: »Es klingelt, es klingelt, hörst du, Malie!«
    Ein seltener Ausbruch eines unsichtbaren Menschen. Mein Opa. Und ich glaubte ja, dass er das war, Mutter hatte noch nichts gesagt. Sie fuhr nicht zu seiner Beerdigung. Bei seinem Tod war ich fünfzehn Jahre alt. Ihr wurde das Reisegeld angeboten. Nicht von Oma, sondern von einer Freundin. Als sie mit Ib telefonierte, bei der Nachbarin in der Diele, während ich lauschend in der Tür stand, am Tag nach dem Nasenbluten, erklärte sie, warum sie nicht fahren wollte: »Ich würde sie umbringen, Ib. Ich würde nicht eine einzige ihrer Tränen ertragen können, ich würde sie sofort erwürgen, mit einem Kissen oder mit bloßen Händen, und deshalb bleibe ich zu Hause. Ich muss an meine Tochter denken.«

    Das mit der Tochter, dass sie an mich denken musste ... ich war so glücklich, als ich sie das sagen hörte. Ich dachte zuerst, es gehe um Gefühle, doch dann begriff ich, dass sie nicht ins Gef ängnis wollte, und dass um jeden Preis verhindert werden musste, dass ich der verräterischen Familie meines Vaters, mit der ich keinerlei Kontakt hatte, in die Hände fiel.
    Sie ignorierte den Tod ihres Vaters, um keinen weiteren Tod zu verursachen. Aber das führte auch dazu, dass wir nie mehr nach Kopenhagen fahren konnten. Auch allein durfte ich das nicht. Der Hass war offen zu Tage getreten, der Puffer war tot. Ich wurde mit Briefen von Großmutter überschwemmt, mein Name stand darauf, es hagelte kleine Geschenke. Schmuckstücke, Holzfiguren, Puzzlespiele, Malbücher, Mützen und Angorahandschuhe und Schachteln voll sucre d’or. Und ganz unten in den Briefen stand: Gruß an Deine Mutter.
    Diesen Gruß richtete ich immer gewissenhaft aus. »Ich soll von Oma grüßen.«
    Ich musterte ihr Gesicht, ohne daraus klüger zu werden. Sie antwortete immer mit einem Nicken und einem »Ach?« Aber eines Tages kam es, nachdem ich den üblichen Gruß ausgerichtet hatte:
    »Opa war nicht dein Großvater.«
    Sie sah mir nicht ins Gesicht, ihre Hände waren mit dem Formen von Brötchen beschäftigt, erfahren und rasch, als massiere sie Küken.
    »Wer war er denn dann?«, fragte ich.
    »Ibs Vater. Meiner nicht.«
    »Weißt du nicht, wo dein Vater ist? Waren sie geschieden?«
    Ich war zu alt, um sie zu berühren. Ich wollte sie in den Arm nehmen, ihr mit Intimität dafür danken, dass sie Dinge sagte, die sie sonst nie erwähnte.
    »Meine Mutter weiß auch nicht, wer es war.«
    Ich überlegte mir diese Mitteilung und kam zu dem einzigen Schluss, den ich im Alter von sechzehn für möglich hielt:

    »O Gott, ist sie vergewaltigt worden?«
    »Nein. Sie war einfach so.«

    Als ich den Webpelz in Stians Tasche steckte, hörte ich ihn fragen: »Hast du den von Oma?«
    »Bist du wach, Schatz? Hast du etwas Spannendes getr äumt?«
    Ich setzte mich auf die Bettkante und nahm ihn in die Arme.
    »Guter feiner Junge, Mamas Junge ... hast du Hunger?«
    »Stig im Kindergarten sagt, dass Jesus im Himmel ist, aber das glaub ich nicht, ich hab ihn doch im Fernsehen gesehen, und da war er weit, weit draußen im Weltraum.«
    »Hast du davon geträumt? Von Jesus?«
    »Ein bisschen. Und dann ist es so kalt in dem Zahn, der mir neulich ausgefallen ist.«
    »Jetzt kommt Lotte. Ich höre sie in der Tür. Sie hat uns ganz viel gutes Essen gekauft.«
    »Nicht so scharf. Ich will kein scharfes Essen.«
    »Bestimmt hat sie Käse gekauft. Und den magst du doch.«
    »Hast du das von Oma?« Er zeigte auf den Webpelz, der in der Tasche lag.
    »Nicht von deiner Oma, sondern von meiner«, antwortete ich und küsste seine Haare.
    »Die ist tot.«
    »Aber trotzdem möchte sie mir ja vielleicht etwas schenken. Und ich weiß, was.«
    »Wenn Oma stirbt, will ich den Mixer.«
    »Den Mixer? Omas Mixer?«
    »Ja, weil ich den zusammen mit ihr halten darf, und weil der so schöne Geräusche macht. Sag ihr das, du.«
    »Soll ich das Oma für dich sagen?«
    »Ja, ich trau mich nicht. Der kostet doch sicher viel Geld.«

    Ich verlor einen Zahn, als ich in Omas Küche Comftakes aß. Bei Oma stopfte ich mich immer mit Cornflakes voll. In Norwegen waren die zu teuer. Mutter kaufte nie welche. Ich saß in Omas taubenblauer Küche, die Sonne schien durchs Fenster, und plötzlich kaute ich auf etwas unerwartet Hartem herum: einem Milchzahn.
    »Jetzt kommt die Zahnfee! Jetzt kommt die Zahnfee!«, schrie Oma ekstatisch, als ich ihr den Zahn hinhielt. Sie lief ins Wohnzimmer und holte ein Likörglas, und ich

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