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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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ließ den Zahn hineinfallen. Sie gab Wasser hinein und stellte das Glas auf die Fensterbank. Mutter war in der Stadt oder irgendwo anders, jedenfalls war sie nicht zu Hause. Aber als wir sie über den Gartenweg kommen sahen, schrie Oma wieder: »Therese hat einen Zahn verloren! Jetzt kommt bald die Zahnfee!«
    »Ach, bringen wir das doch hinter uns«, erwiderte Mutter. »Du verwöhnst sie.« Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, ihre Dauerwelle war in der Hitze zusammengefallen. Sie ließ ihre Tasche auf einen Stuhl fallen, öffnete sie und nahm eine Münze aus ihrem Portemonnaie. Dann ging sie zur Fensterbank, wo das Glas mit dem Zahn stand, fischte den Zahn heraus und legte die Münze ins Glas.
    Oma zog sie von hinten an den Haaren. Mutters Nacken kippte in einen seltsam steilen Winkel.
    »Was tust du da?«, schrie Oma. »Was tust du deiner Tochter nur an?«
    Mutter wand sich wie eine Katze und schlug Oma hart ins Gesicht.
    »Lass mich los, du Hexe«, sagte sie überraschend leise. »Hierher kommt keine Fee. Hierher ist nie eine Fee gekommen, um auch nur einen einzigen meiner Zähne zu holen. Hier gibt es nur eine böse Fee, und die bist du.«
    Ich kostete mein Blut. Süßer Eisengeschmack. Das Loch tat bis tief in den Kiefer weh. Ich ging zum Glas, fischte die Münze heraus und ging aus dem Haus. Keine fragte, wohin ich wollte.
Allein ging ich zum Strandvei, zur Eisbude, und kaufte mir ein grünes Wassereis, das wie ein breit grinsendes Clownsgesicht aussah. Das kalte Eis tat dem blutenden Loch in meinem Mund gut.

L otte deckte im Wohnzimmer. Die Küche sei zu eng, sagte sie, und sie fand, es rieche dort nach faulen Eiern. Sie hatte Pasteten und Fleisch gekauft, und zwei gute Käse, Brot und Baguettes, Bier und Saft und echtes Butterschmalz mit gebratenen Zwiebeln. Ib brachte die Schnapsflasche. Wir öffneten die Gartentür und konnten vom Tisch aus den Satyr sehen. Kräftig und maskulin stand er da, mit seinen Bocksohren und seinem Schwanz, ein Dionysos, der sich nicht rühren konnte; unfähig, das Lebensfest zu arrangieren, das er symbolisierte.
    »Du musst den Satyr putzen«, sagte ich zu Mutter. »Der ist doch aus Kupfer. Dann erzielt er sicher einen besseren Preis.«
    »Die Düse ist dicht, aber die krieg ich wieder hin«, sagte Ib. »Dieser Teufel soll allen interessierten Hauskäufern was vorspritzen.«
    »Wir würden auch für das Klavier etwas bekommen«, sagte Mutter.
    »Sie hat für das Klavier etwas bekommen«, sagte Ib.
    »Es war ja auch ihrs«, sagte Lotte.
    »Nein«, sagte Mutter. »Es war seins.«
    »Aber als er tot war, da durfte sie doch wohl ...«
    »Es war noch immer seins«, beharrte Mutter.
    »Er hat nur darauf gespielt, wenn sie nicht zu Hause war«, sagte Ib.

    »Chopins Walzer Nr. 7. Wenn ich den höre, denke ich immer an ihn«, sagte Mutter.
    »Wollte sie nicht, dass er spielte?«, fragte Lotte.
    »Er konnte einfach niemand sein, wenn er mit ihr zusammen war, glaube ich. Es war nicht genug Platz. Und wenn man mitten im Wohnzimmer Chopin spielt, dann wird man jemand«, sagte Ib. Dann brach er plötzlich in Gelächter aus. Er schaute Mutter an, und sie riefen wie aus einem Munde: »Weißt du noch .... JAAA!«
    Und dann sangen sie zusammen:
    »Schlaf jetzt süß, mein Schätzelein,
bei dir sitzt dein Mütterlein,
um dein Lager schweben fein
lauter weiße Engelein.
Weit von hier auf blauem Meer,
fährt dein Vater hin und her,
sehnt sich sehr nach seiner Kleinen,
deshalb darfst du nun nicht weinen,
bitte Gott in Seiner Güte,
dass den Vater er behüte.«
    Lachen, Lachen, Lachen. Endloses lärmendes Lachen.
    »Und Gott bewahre uns, wie wütend sie war, wenn er das gespielt hat!«, rief Ib.
    »Ja, wenn er nicht aufhörte, spielte sie um seine Finger herum, um die Akkorde zu ruinieren. Wenn er dann noch immer nicht aufhörte, versuchte sie, ihn vom Klavierhocker zu zerren. Sie war wie besessen!«, rief Mutter und teilte in ihrer Aufregung ein Stück Brot in zwei Hälften. Sie ritzte sich mit dem Messer und steckte den Daumen in den Mund.
    »Bis er mit dem Singen aufhörte und sich ruhig erhob und ins Arbeitszimmer ging«, sagte Ib und konnte nicht aufhören zu lachen, er hatte Krümel auf der Zunge, wie Ausschlag.

    »Und sie warf Gegenstände hinter ihm her und gegen die geschlossene Tür«, sagte Mutter.
    »Aber warum?«, fragte Lotte, die ihren Schwiegervater nicht mehr kennen gelernt hatte. Ich saß ganz still und betrachtete Stian, der konsequent auf der linken Seite kaute, um dem

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